Die Dichterin von Aquitanien
erstarrte. Auf einmal schien sein Zorn verraucht, als habe er endgültig begriffen, in welche Lage er geraten war.
»Es soll heute geschehen, weil es kaum Zuschauer bei dem Turnier gibt. Die Leute müssen erst ihren Rausch nach dem Fest ausschlafen«, meinte er leise. »Régnier wird ihn herausfordern und zu einem Zweikampf locken. Neben dem Turnierplatz ist ein Waldstück mit einer Lichtung. Dort soll es stattfinden. Sieben andere Ritter lauern im Hinterhalt. Euer blonder Schönling hat keine Möglichkeit, sie alle zu schlagen.«
Maries Griff lockerte sich kurz, und Denis Piramus nutzte die Gelegenheit, um loszurennen. Hawisa packte die Kutte, aber Marie wies sie mit einer Geste an, ihn gehen zu lassen. Sie brauchte ihn nicht mehr.
Kaum war die Tür zugefallen, begann sie herumzurennen wie ein eingesperrtes Tier.
»Wir müssen los«, rief sie der fassungslosen Emma zu. »Wir müssen ihm helfen!«
Hawisa legte ihre Hände auf Maries Schultern.
»Beruhige dich und denke nach. Du kannst es nicht mehr verhindern.«
»Es ist ein Kampf unter Männern«, fügte Emma hinzu. »Willst du denn selbst ein Schwert in die Hand nehmen? Mach dich nicht lächerlich, Marie. Im Grunde kämpft er für deine Ehre. Ich hätte dir niemals zugetraut, dass du so viel Aufregung bewirken könntest!«
Marie übersah Emmas anerkennenden Blick und schob beide Frauen entschieden von sich.
»Ich kann ihn nicht allein lassen. Er braucht Hilfe. Aliénor …«
»Die Königin hat andere Sorgen, als sich in ein Turnier unter unwichtigen Rittern zu mischen«, unterbrach ihre Tante. »Überlasse es Gottes Willen. Wenn er stirbt, dann für dich.«
Kälte durchströmte Maries ganzen Körper, und in ihrem Kopf zogen Bilder vorüber. Guillaume lag leblos auf dem nassen Gras, Cleopatras kleiner Leib wurde von Flammen verschlungen. Wie oft hatte sie schon verloren, was sie liebte?
»Halt den Mund, ich muss Hilfe holen!«, kreischte sie und erschrak selbst über die Lautstärke ihrer Stimme. Emma fuhr beleidigt zurück.
»Aber wer hilft ihm denn? Die meisten schlafen noch«, meinte sie ratlos. »Henry, der junge König, mag den Ritter Régnier. Deshalb wird auch der edle William dir nicht helfen. Vielleicht würde Richard … Er nimmt es sehr genau mit der Ritterehre. Wenn sieben Männer einem einzigen auflauern, so ist das nicht unbedingt ehrenhaft.«
Marie fühlte, wie eine Last von ihren Schultern glitt. Sie schlang ihre Arme um Emma und drückte sie an sich.
»Ich danke dir. Du bist wie meine Schwester«, flüsterte sie, um dann sogleich aus dem Raum zu laufen.
Sie fegte durch den Gang, nahm zwei Stufen auf einmal, um ins nächste Stockwerk zu gelangen, wo die königlichen
Kinder untergebracht waren. Erst vor der Tür zu Richards Gemach blieb sie stehen. Der Herzschlag war wie ein Trommeln in ihren Ohren. Was war, wenn sie Richard nicht überzeugen konnte, hier nur unnötig wertvolle Zeit verlor? Entschlossen wischte sie alle Zweifel beiseite und klopfte. Nachdenken konnte sie später.
Richard bat sie einzutreten, und sie drückte zögernd die Tür auf. Noch niemals hatte sie die Räume des stolzen, schweigsamen Jungen betreten, der Aliénors auserwählter Nachfolger war.
Richard lag in halb aufgeknöpfter Chemise auf seinem Bett. Er hielt eine Schachfigur in der Hand, ließ sie nachdenklich über dem Brett schweben. Dicht neben ihm erblickte Marie Meir, den Sohn des jüdischen Arztes, ebenfalls unvollständig bekleidet und mit einem entspannten Lächeln im Gesicht. Sie waren beide auffallend hübsche Jungen, hell und dunkel wie die Figuren auf dem Schachbrett. Marie kam nicht gegen das Gefühl an, ein störender Eindringling zu sein.
»Was wünscht meine dichtende Cousine?«, fragte Richard gelassen. Marie trat einen Schritt vor, um ehrerbietig in die Knie zu sinken. Dann trug sie so gefasst wie möglich ihre Geschichte vor. Richard zog nur seine Brauen hoch, dann erhob er sich mit völliger Gelassenheit.
»Ein Hinterhalt verletzt die Gebote von Ehre und Gerechtigkeit unter Rittern«, sagte er nur. »Ich sollte wohl eingreifen.«
»Während der Turniere locken die Ritter sich ständig in Hinterhalte«, warf Meir zu Maries Entsetzen ein. »Daran ist doch nichts Ungewöhnliches, trotz all dem Gerede über Ehre, geht es nur um Ruhm und Geld.«
Richard wandte kurz den Kopf in ihre Richtung, dann warf er Meir einen vielsagenden Blick zu. Marie wurde bewusst,
wie elend sie aussehen musste, immer noch auf Knien und mit Tränen in den Augen.
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