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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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sie etwas wüssten, was du nicht weißt. Und sie wollen dir nicht sagen, woher sie es wissen.«
    »Ich könnte es dir sagen«, sagte Mallory. »Ich würde es dir gern sagen. Aber du würdest es nicht verstehen.«
    »Natürlich würde ich es verstehen, Ned«, sagte Hetty mit aufgeweckter Stimme. »Es macht mir Spaß, kluge Männer reden zu hören.«
    »London ist ein komplexes System, das aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es ist wie – wie ein Stockbetrunkener in einem Raum mit Whiskyflaschen. Der Whisky ist versteckt, also tappt er ständig auf der Suche nach ihm herum. Wenn er eine Flasche findet, nimmt er einen langen Zug, stellt sie aber wieder weg und vergisst sie sofort. Dann tappt er weiter und sucht wieder, und so fort.«
    »Schließlich geht ihm der Whisky aus, und er muss nachkaufen«, sagte Hetty.
    »Nein. Er geht ihm nicht aus. Da ist ein Dämon, der die Flaschen ständig auffüllt. Darum ist es ein offenes dynamisches System. Er tappt ewig in dem Raum herum, ohne zu wissen, was sein nächster Schritt sein wird. Blind und ahnungslos tappt er im Kreis, in Schlangenlinien, wie sie ein Schlitt schuhläufer macht, aber nie verlässt er die Grenzen. Und wenn er eines Tages die Tür findet, rennt er Hals über Kopf hinaus in die äußere Dunkelheit. Und dann kann alles geschehen, denn die äußere Dunkelheit ist Chaos. Sie ist Chaos, Hetty.«
    »Und das gefällt dir, wie?«
    »Was?«
    »Ich weiß nicht, was das bedeutet, was du gerade sagtest; aber ich merke, dass es dir gefällt. Es macht dir Spaß, darüber nachzudenken.«
    Die gleichmäßig klatschenden Schaufelräder änderten ihren Rhythmus, verlangsamten sich etwas. Die schwarze Themse ver strömte einen ekelhaften Gestank; im Karbidscheinwerfer des Flussdampfers waren voraus auf der unbewegten Wasserfläche Blasen zu sehen, die sich ständig neu bildeten und zerplatzten.
    »Oh, wie grässlich!«, rief Hetty und schlug eine Hand vor den Mund. »Lass uns in den Salon gehen, Ned, bitte!«
    Das Schwindelgefühl und eine seltsame Neugierde hielten Mallory an der Reling. »Wird es noch schlimmer? Flussabwärts?«
    »Viel schlimmer«, sagte Hetty durch ihre Finger. »Ich habe Leute gesehen, die ohnmächtig geworden sind.«
    »Warum fahren die Dampfer dann noch?«
    »Sie fahren immer«, sagte Hetty, halb abgewandt. »Es sind Postdampfer.«
    »Ach«, murmelte Mallory. »Kann man hier Briefmarken kaufen?«
    »Drinnen«, sagte Hetty. »Und mir kannst du auch was kaufen.«
    Hetty sperrte die Tür auf und zündete im engen kleinen Korridor ihrer Wohnung in der Flower and Dean Street die Öllampe an. Froh, die unheimlich dunstige Finsternis der Seitenstraßen Whitechapels hinter sich zu haben, schob Mallory sich an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Ein einfacher Tisch war beladen mit einem unordentlichen Stapel von Zeitungen und Zeitschriften, die trotz des Gestanks irgendwie noch immer ausgeliefert wurden. Im Halbdunkel konnte er eine fette Schlagzeile ausmachen, die den schlechten Gesundheitszu stand des Premierministers beklagte. Der alte Byron simulierte ständig Krankheit – einen lahmen Fuß oder Leberbeschwerden oder eine wässerige Lunge.
    Hetty betrat das Wohnzimmer mit ihrer leuchtenden Lampe, und auf der staubigen Tapete erblühten verblasste Rosen. Mallory ließ einen Goldsovereign auf die Tischplatte fallen. Er hasste Streit in diesen Dingen und zahlte immer im Voraus. Sie bemerkte den reinen Klang der Münze und lächelte. Dann stieß sie ihre staubigen Stiefeletten von den Füßen und ging zu einer anderen Tür, die sie aufstieß. Ein grauer Kater kam miauend heraus, und sie beschäftigte sich eine Weile mit ihm, streichelte ihn und nannte ihn Toby. Dann ließ sie ihn hinaus auf die Treppe. Mallory sah zu und stand in unglücklicher Geduld da. Der Fußweg von der Dampferanlegestelle hierher hatte seinen Kopf trotz des widrigen Gestanks ein wenig klarer werden lassen. »Nun, dann herein mit dir«, sagte sie mit einer auffordernden Kopfbewegung.
    Das Schlafzimmer war klein und schäbig, nicht mehr als eine Kammer mit einem Bett, einer Kommode, einem Stuhl und einem hohen, halb erblindeten Drehspiegel, der aussah, als hätte er einmal einiges Geld gekostet. Hetty stellte die Lampe auf den stumpf gewordenen Lack der Kommode und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Sie zog die Arme aus den Är meln und warf das Kleidungsstück beiseite, als wäre ihr Kleidung gleich welcher Art nur lästig. Dann stieg sie aus ihrem Rock sowie einem steifleinenen Unterrock und

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