Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Aufforderung.
»Wünschen Sie zu speisen, Sir?«, fragte der Oberkellner.
»Nein, danke.«
Als sie allein waren, seufzte Wakefield vernehmlich. »Verdammt noch mal, Oliphant, habe ich meine Bedingungen nicht deutlich gemacht?«
»Verraten Sie mir, was es ist, Andrew, wovor Sie sich auf einmal so fürchten?«
»Es sollte ziemlich offensichtlich sein.«
»Sollte es?«
»Lord Galton ist mit Ihrem verdammten Mr. Egremont verbündet. Er ist der große Patron der Kriminalanthropometrie. Ist es immer gewesen. Ihr Gründer, könnte man sagen. Er ist Charles Darwins Vetter , Oliphant, und hat großen Einfluss im Oberhaus.«
»Ja, und in der Royal Society, und in der Geographischen Gesellschaft. Ich bin mit Lord Galton durchaus vertraut, Andrew. Er befürwortet die systematische Höherzüchtung der menschlichen Art.«
Wakefield legte Messer und Gabel auf den Tellerrand. »Die Kriminalanthropometrie hat das Amt übernommen. Das Zentralamt für Statistik ist heute praktisch unter Egremonts Kontrolle.«
Wakefields Vorderzähne begannen an der Unterlippe zu nagen.
»Ich bin gerade aus der Fleet Street gekommen«, sagte Oliphant. »Die Ebene der Gewalt in dieser Gesellschaft, oder vielmehr die Ebene der uneingestandenen Gewalt, ist bemerkenswert, finden Sie nicht, Andrew?« Und er zog die Ballester Molina aus dem Mantel und legte die Waffe auf das Leinen zwischen ihnen. »Nehmen Sie diesen Revolver als Beispiel. Allzu leicht erhältlich, wie ich höre. Er ist ein französisch- mexikanisches Erzeugnis, durch die Vermittlung von Spaniern. Bestimmte Teile der Mechanik, höre ich, Federn und was weiß ich, sind tatsächlich britischen Ursprungs und auf dem offenen Markt erhältlich. Es wird unter diesen Umständen ziemlich schwierig zu sagen, woher eine Waffe wie diese stammt. Geradezu sinnbildlich für etwas in unserer gegenwärtigen Situation, meinen Sie nicht?«
Wakefield war blass geworden.
»Aber ich scheine Sie beunruhigt zu haben, Andrew. Das bedaure ich.«
»Sie werden uns auslöschen «, sagte Wakefield. »Wir werden aufhören zu existieren. Nichts wird übrig bleiben, nichts, was beweisen könnte, dass einer von uns jemals gelebt hat. Kein Kontoauszug, keine Hypothek bei einer Bank, gar nichts.«
»Das ist genau, wovon ich rede, Andrew.«
»Schlagen Sie mit mir nicht diesen moralischen Ton an, Sir«, sagte Wakefield. »Sie und Ihre Leute fingen damit an, Oliphant – mit dem Verschwinden von Personen, den fehlenden Akten, den ausgelöschten Namen, den verloren gegangenen Nummern, den Geschichten, die zu bestimmten Zwecken herausgegeben wurden … Nein, schlagen Sie diesen Ton nicht bei mir an.«
Oliphant war um eine Antwort verlegen. Er stand auf, ließ den Revolver auf dem Tischtuch liegen und verließ den Raum, ohne sich umzusehen.
»Verzeihen Sie«, sagte er im Marmorvestibül zu einem burgunderrot befrackten Hausdiener, der Zigarrenstummel aus einer mit Sand gefüllten marmornen Schale fischte, »könnten Sie mich bitte zum Büro des Klubverwalters führen?«
»Warum nicht?« Der Mann mit amerikanischem Akzent führte Oliphant durch einen mit Spiegeln und Topfpflanzen gesäumten Korridor.
Fünfundfünfzig Minuten später, nachdem er die Räumlichkeiten des Wirtshauses und des Klubs eingehend besichtigt, ein Fotoalbum mit Bildern von den jährlichen Festlichkeiten des Klubs betrachtet, einen Antrag auf Mitgliedschaft ausgefüllt und eine nicht unbeträchtliche Aufnahmegebühr à fonds perdu entrichtet hatte, schüttelte Oliphant dem pomadisierten Verwalter die Hand, gab ihm eine Pfundnote und bat, dass man ihm den Weg hinaus durch den verstecktesten Hintereingang zeige.
Dieser erwies sich als eine Tür zur Abwaschküche, durch die er in einen engen nasskalten Gang von genau der Art gelangte, die er erhofft hatte.
Innerhalb einer Viertelstunde stand er an der Theke eines überfüllten Wirtshauses in der Bedford Row und las wiederholt den Text des Telegramms, das eine gewisse Sybil Gerard einst dem Parlamentsabgeordneten Charles Egremont geschickt hatte.
»Hab meine beiden Jungen auf der Krim verloren, Herr, an der Seuche sind sie gestorben, und heute noch kriege ich jedesmal einen Schreck, wenn ein Telegramm kommt …«
Oliphant faltete den Zettel und legte ihn in sein Zigarrenetui. Er betrachtete sein unscharfes Spiegelbild im polierten Zinkblech der Theke. Er sah sein leeres Glas, blickte zu der Frau auf, einer angetrunkenen alten Vettel in Lumpen, die jede Farbe verloren hatten, die Wangen rosa
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