Die Dirne vom Niederrhein
Schwester Agathe einige Zeit los sein.«
Der Vikar stellte sich vor Maximilian. Ein letztes Mal drehte er sein Haupt. Hohe Flammen züngelten bereits in den Nachthimmel und erhellten die umliegenden Felder.
»Also, was sagst du?«, wollte Vikar Weisen wissen.
Die Worte des Mädchens – Amelie – hallten in seinem Verstand nach. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob der Vikar wirklich der Mann war, für den Maximilian ihn hielt. »Sehr gerne, Herr.«
Der Vikar reichte ihm die Hand. Maximilian schlug ein. Ein Handschlag – mit Blut besiegelt.
Als sie das Kloster erreichten und gemeinsam die Gänge entlangschritten, stand Schwester Agathe bereits an der Tür des Studierzimmers.
»Doktor Sylar war so freundlich, mich zu informieren, dass einer unserer Patienten die Flucht ergriffen hat«, eröffnete sie ohne Umschweife.
Ihr schneidender Blick war Maximilian nicht entgangen, dazu trieften ihrer Worte vor Verachtung. Die drei gingen in die Studierstube.
»Darf ich fragen«, fuhr sie fort, »ob es in unserer Macht lag, diese arme, verwirrte Seele heil und gesund in das Krankenzimmer zu bringen?«
Mit einem tiefen Seufzer ließ sich der Vikar auf den Stuhl fallen. »Nein, Schwester Agathe. Leider war es uns nicht möglich, sie zu retten. Ich werde sie heute Nacht in meine Gebete einschließen. Ich bin mir sicher, der Allmächtige wird ihre Seele empfangen, jetzt, da ihr Körper von den Lasten der irdischen Welt befreit wurde.«
Für einen Herzschlag konnte man im Antlitz der Nonne eine Regung erkennen, mehr ein Zucken, was manche vielleicht als stillen Moment der Trauer auslegen würden.
Die Lippen zu einem dünnen Strich geformt, senkte sie den Blick. »Es dürfte Eurer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, werter Vikar, dass es beileibe viele Todesfälle in unserer Krankenstube gibt. Tatsächlich habe ich selten gesehen, dass einer der Patienten diesen Flügel einmal lebend verließ.«
Der Mann lehnte sich nach vorn, verschränkte die Finger ineinander und funkelte die Nonne an. »Was wollt Ihr damit sagen, Schwester?«
»Ich will damit sagen, dass es eigentlich unsere Aufgabe sein sollte, die Kranken und Bedürftigen zu heilen. Doktor Sylars Methoden sind …«, kurz fiel ihr Blick auf die blutige Klinge in Maximilians Hand, »… sind durchaus fragwürdig.«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Zweifelt Ihr an seinen Fähigkeiten?«
»Wie könnte ich?«, beantworte Schwester Agathe seine Frage. Dabei betonte sie jedes Wort.
»Gut, dann wäre das ja geklärt. Gute Nacht, Schwester Agathe.«
Auf dem Absatz drehte sich die Nonne um und hatte bereits die Klinke in der Hand.
»Ach, da wäre noch eine Kleinigkeit«, sagte der Vikar leise und wartete, bis die Nonne ihr Gesicht zu ihm drehte. »Der junge Schmied scheint mit seinen Aufgaben ein wenig unterfordert. Für die Geschäfte des Klosters könnte ich durchaus eine helfende Hand gebrauchen. Nach jedem Mittagsmahl steht er nicht mehr zu Eurer Verfügung, sondern wird bei mir geistige Arbeit verrichten.«
Wortlos verließ sie den Raum, jedoch blieb der Blick des Vikars noch etliche Momente auf die Tür gerichtet. Maximilian traute sich nicht, sich zu bewegen, bis der Vikar sich aus der Starre löste und ihn aus seinen bernsteinfarbenen Augen ansah.
»Es ist gut zu wissen, dass man jemandem vertrauen kann. Doktor Sylar ist ein großartiger Arzt und ich halte ihm den Rücken frei, weil ich weiß, dass er gute Arbeit leistet. Auch unterstützt er mich, wo er kann. Man braucht Freunde in dieser dunklen Zeit. Findest du nicht, Maximilian?«
»Ja, Herr.«
»Hast du jemanden, dem du vollends vertraust?«
Maximilian blickte zu Boden. Früher hätte er diese Frage ohne Probleme beantworten können, genau wie Lorenz. Sein jüngerer Bruder hatte ihm vertraut. Blind. Genau das war sein Todesurteil gewesen. Maximilians Stimme war brüchig, er musste sich mehrmals räuspern, bis er fähig war, eine Antwort zu geben.
»Früher habe ich meinem Bruder zur Gänze vertraut. Ebenso zwei Freunden, die ich bereits seit Kindertagen kenne. Jakob und Gustav, genannt Ratte. Doch mittlerweile … Es ist viel vorgefallen, ich weiß nicht mehr, ob ich sie noch Freunde nennen darf. Nicht mehr.«
Der Vikar atmete tief ein. »Ich vertraue dir, Junge. Und es wäre mir eine Freude, wenn du mir dasselbe Geschenk zuteil werden lässt. Man braucht Freunde, wenn man weiterkommen, wenn man etwas erreichen will. Alleine schafft man das nicht. Zusammen ist man imstande,
Weitere Kostenlose Bücher