Die Dornen der Rose (German Edition)
ganzen Dachboden und den Hof bis zum Zaun im Blick. Justine stand auf der Mitte der Leiter, sodass sie sofort sehen würde, wenn jemand hereingeschlichen käme, um zu lauschen. Ohne dass irgendwer Anweisungen erteilte, hatten alle ganz selbstverständlich ihre Wachposten bezogen, von denen sie alles im Auge behalten konnten. Zwei so stille, erfahrene, unkindliche Kinder waren beunruhigend.
Mit Jean-Paul musste sie sich auch befassen. Er wirkte müde und frustriert. Seine Hände, die sich auf den Armlehnen des Sessels in die Decke krampften, sahen wie die knochigen, fein ziselierten Fäuste eines asketischen Heiligen aus. Sie würde nicht zulassen, dass sie seinetwegen weich wurde und sich von ihren Plänen abbringen ließ.
»Mit deinem Puls stimmt etwas nicht«, sagte er. »Ich glaube, man hat dir Gift gegeben.«
»Vermutlich habe ich etwas Schlechtes gegessen. Morgen wird es mir besser gehen. Dann werde ich auch wieder klar denken können. Wie schwierig ist es wohl, einen Aufruhr anzuzetteln? Einen kleinen Aufruhr?«
»In der Rue Tessier? Es wäre schwierig und es würde nicht klappen. Marguerite, wir können nicht zu ihm. Es tut mir so unendlich leid.«
»Ich brauche dein Mitleid nicht. Ich brauche deine Hilfe. Solche Spielchen haben wir schon mal gemacht.«
»Auch wenn es machbar wäre, haben wir doch keine Zeit, um etwas zu planen. Wir haben uns schon früher an Rettungsaktionen in letzter Minute versucht. Ich habe Claude und Virginie vor meinen Augen sterben sehen. Hast du das vergessen?«
Das war auch in einem alten Kloster gewesen, wo Claude und Virginie auf dem mit Feldsteinen gepflasterten Hof gestorben waren. Sie schluckte. »Erzähl mir nicht von deinen Kriegserinnerungen, Jean-Paul. Die Frage, ob ich es mache, steht nicht zur Disposition. Ich teile dir mit, was ich tun werde, und bitte um deine Hilfe.«
»Damit wirfst du dein Leben weg. Und du wirst andere mit in den Abgrund reißen.«
»Dann werde ich eben nur auf die Männer und Frauen zurückgreifen, die ich selber angeworben habe. Nicht deine Leute. Vielleicht sind meine Leute nicht so besonnen und vorsichtig, wie du es geworden bist.« Sofort schämte sie sich für das, was sie gesagt hatte. »Nein. Das nehme ich zurück. Verzeih mir.«
Auf der umgedrehten Truhe, die als Tisch diente, stand ein Korb mit Brot, einer Flasche Wein und einem mit Wasser gefüllten Krug. Sie trank etwas Wasser direkt aus dem Krug und stellte ihn wieder hin. »Ich werde nicht das Leben anderer aufs Spiel setzen. Es wird keine Toten geben, das verspreche ich.«
»Du setzt bereits dein eigenes Leben aufs Spiel.«
»Nicht einmal das. Ich werde vorsichtig sein.«
Über dem Bett am Rande der Traufe war ein Fenster eingelassen. Im Stallhof ging es laut und beruhigend normal zu. Dies war ein Etablissement, in das mächtige Männer kamen, um sich zu amüsieren. Hier war man ungestörter als auf dem dunkelsten Friedhof um Mitternacht. Keiner sah – und vor allem keiner sagte – irgendetwas. Eine Frau, die kam und ging, fiel gar nicht weiter auf. Hier herrschten Blindheit und Wortlosigkeit in epidemischem Ausmaß.
Jean-Paul sah sie weiter finster an. »In der Normandie wäre es sicherer für dich. Wenn der Mann deiner würdig wäre, würde er das Gleiche sagen. Verlass Paris. Geh und beschütz deine Leute. Bau dein Netzwerk wieder auf.«
»Nachdem ich das hier beendet habe.«
»Victor wird in der ganzen Stadt nach dir suchen.«
»Wir sind Experten darin, zu verstecken, was Leute wie Victor finden wollen.«
»Wir sind aber keine Experten darin, eine Festung wie dieses Kloster zu stürmen. Wenn du das versuchst, wirst du sterben.«
»Das werde ich nicht. Bis jetzt habe ich mich noch nicht umgebracht.«
»Du bist so stur wie ein Holzstamm.« Sie merkte, dass sie gewonnen hatte, weil er der Kiste, die ihm als Fußschemel diente, einen Tritt versetzte. »Und entsetzlich dumm. Wie willst du diese idiotische Aktion überhaupt durchführen?«
»Mir fällt schon etwas ein.«
»Das erfüllt mich mit Schrecken. Und ich verschwende meinen Atem. Ich kenne dich doch sehr gut.« Er stand auf und streckte ihr seine Ärmel entgegen »Zieh mal. Hilf mir aus dieser Jacke. Ich kann nicht denken, wenn ich fast brate.«
Sie zog an seinen Ärmeln und half ihm, aus seiner Jacke zu schlüpfen. Er warf sie über einen alten Paravent. »Überzeug mich davon, dass es machbar ist. Und lassen wir die jungen Gefolgsleute nach draußen gehen. Je weniger sie wissen, desto besser.«
»Der
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