Die Dornenvögel
Tischplatte. Es fiel auf den Fußboden, öffnete sich in der Mitte. Der Erzbischof, der unmittelbar neben dieser Stelle saß, beugte sich vor, um es aufzuheben. Neugierig betrachtete er das braune, hauchdünne Gebilde, das einmal eine Rose gewesen war.
»Wie ungewöhnlich! Warum bewahren Sie dies hier auf? Ist es eine Erinnerung an Ihr Zuhause, an Ihre Mutter?« Die Augen, die so tief zu forschen und so nachdrücklich zu ergründen verstanden, blickten Ralph de Bricassart aufmerksam an, und ihm blieb keine Zeit, seine Gefühle zu tarnen, seine innere Anspannung zu bemänteln. »Nein.« Für ein oder zwei Sekunden glich sein Gesicht einer Grimasse. »Ich möchte keine Erinnerung an meine Mutter.« »Aber es muß doch große Bedeutung für Sie haben, sonst würden Sie es wohl kaum so liebevoll in diesem Buch aufbewahren, das Ihnen so teuer ist. Wovon spricht es zu Ihnen?«
»Von einer Liebe, die so rein ist wie meine Liebe zu Gott, Vittorio. Es tut dem Buch nichts als Ehre.«
»Das habe ich mir bereits gedacht, Ralph. Schließlich kenne ich Sie ja. Aber gefährdet diese Liebe nicht Ihre Liebe zur Kirche?« »Nein. Der Kirche wegen habe ich sie verlassen, habe auf sie verzichtet, für immer.«
»Jetzt endlich verstehe ich die Traurigkeit! Aber, mein lieber Ralph, es ist nicht so schlimm, wie Sie glauben, wirklich nicht. Sie werden in Ihrem Leben noch für viele Menschen Gutes wirken, und Sie werden von vielen Menschen geliebt werden. Und auch ihr, von der dieses zarte, zerbrechliche Andenken stammt, wird es nie fehlen an der Liebe. Weil Sie, Ralph, zusammen mit der Rose auch die Liebe bewahrt haben und bewahren werden.«
»Ich glaube nicht, daß sie das auch nur im mindesten versteht.« »O doch. Wenn Sie sie so sehr geliebt haben, dann ist sie gewiß auch Frau genug, um zu verstehen. Sonst hätten Sie sie schon längst vergessen, und dieses so brüchige Gebilde
- es wäre seit langem nicht mehr.«
»Es hat Zeiten gegeben, wo mich nur stundenlanges Knien auf hartem Boden davor bewahrte, alles im Stich zu lassen, um zu ihr zu gehen.«
Der Erzbischof löste sich aus seinem Sessel und kniete nieder neben dem Mann, der sein Freund war: neben diesem schönen Mann, den er liebte wie nur wenige außer seinem Gott und seiner Kirche, beides für ihn untrennbar, unteilbar.
»Sie werden hier nichts im Stich lassen, Ralph, und das wissen Sie auch. Sie gehören zur Kirche. Sie haben immer zu ihr gehört und werden immer zu ihr gehören. Denn Sie sind wirklich berufen. Jetzt werden wir beten, und ich will die Rose für den Rest meines Lebens in meine Gebete einbeziehen. Gott der Herr schickt uns viel Kummer und viele Schmerzen auf unserem Weg zum ewigen Leben. Wir müssen lernen, das zu ertragen, Sie wie auch ich.«
Ende August erhielt Meggie von Luke einen Brief, in dem er ihr mitteilte, daß er im Townsville Hospital liege. Er habe die Weilsche Krankheit. Allerdings betonte er, er befinde sich außer aller Gefahr und man werde ihn schon bald entlassen.
»Sieht also ganz so aus, als ob wir nicht bis zum Jahresende warten müssen, um zusammen Ferien zu machen, Meg. Zum Zuckerrohr kann ich erst zurück, wenn ich wieder hundertprozentig fit bin. Und die beste Art, wieder richtig fit zu werden, ist ein schöner Urlaub. Ich werde also in ungefähr einer Woche kommen, um dich abzuholen.
Und dann fahren wir zum Eacham-See auf dem Atherton- Tafelland. So ungefähr für zwei Wochen. Bis ich wieder gesund genug bin, um zu arbeiten.«
Meggie konnte es zuerst kaum glauben. Und dann fragte sie sich, ob sie jetzt, wo sich die Gelegenheit bot, überhaupt mit ihm zusammen sein wollte. Eigentlich hatte alles dazu beigetragen, ihr Luke zu entfremden, am meisten zweifellos er selbst. Und dann war da auch noch die so unangenehme Erinnerung an das Hotelzimmer in Dungloe - an das, was wohl eine Art Hochzeitsnacht hätte sein sollen. Den einstigen Schrecken besaß diese Erinnerung allerdings längst nicht mehr. Meggie hatte in verschiedenen Büchern nachlesen können, daß ihre so bestürzenden Erfahrungen damals hauptsächlich aus Unwissenheit resultierten - ihrer eigenen wie auch der Lukes.
O Gott, lieber Gott, mach, daß dieser Urlaub ein Kind bedeutet!
Wenn ich nur ein Baby hätte, etwas, das ich lieben kann, so wäre doch alles viel leichter.
Anne hatte nichts dagegen, ein Kind im Haus zu haben, ganz im Gegenteil. Genauso war es mit Luddie. Beide hatten es ihr Hunderte von Malen versichert: hatten mit ihr gehofft, daß Luke irgendwann
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