Die Dornenvögel
delikater Natur und zweifellos von einigem Gewicht. Es gab Dinge, die längst reif schienen für eine Erörterung zwischen den beiden Kirchen. Immerhin brachte der Vatikan sowohl der russischen als auch der griechischen Orthodoxie ein Maß von Zuneigung entgegen, wie er es für den Protestantismus wohl nie würde aufbringen können. Allerdings gab es da auch einen entscheidenden Unterschied: Die Orthodoxen waren Schismatiker und nicht schlechthin Ketzer; die Linie ihrer Bischöfe ließ sich, genauso wie die Roms, direkt und ununterbrochen bis zum heiligen Petrus zurückführen.
Der Erzbischof wußte, daß ihm diese Mission übertragen worden war, um ihn auf seine diplomatischen Fähigkeiten hin zu prüfen: ein mögliches Sprungbrett für größere Aufgaben in Rom selbst. Wieder einmal war ihm seine Sprachbegabung entscheidend zu Hilfe gekommen, denn letztlich hatte wohl die Tatsache den Ausschlag gegeben, daß er das Griechische so ausgezeichnet beherrschte. Für diese Mission war er eigens vom fernen Australien nach Griechenland geschickt worden, und natürlich hatte es von Anfang an keinen Zweifel daran geben können, daß er Bischof de Bricassart auf die Reise mitnehmen werde. Im Laufe der Jahre war dieser wirklich erstaunliche Mann für ihn zur unentbehrlichen Stütze geworden. Ein Mazarin, wahrhaft ein Mazarin! Da Seine Exzellenz den Kardinal Mazarin weit mehr bewunderte als den Kardinal Richelieu, bedeutete der Vergleich in der Tat hohes Lob.
Ralph war genau so, wie die Kirche das bei ihren höheren Würdenträgern liebte. In theologischer wie ethischer Hinsicht konservativ, verfügte er über einen wendigen und fein differenzierenden Verstand und besaß genügend Selbstbeherrschung, um sich von seinen persönlichen Gefühlen nichts anmerken zu lassen. Er wußte genau, wie er sich zu verhalten hatte, um bei anderen Anklang zu finden, gleichgültig, ob er seine Gesprächspartner mochte oder nicht, mit ihnen übereinstimmte oder ihre Meinung nicht teilte. Ein Kriecher oder Speichellecker war er dennoch nicht. Er war ein Diplomat. Ließ man es sich angelegen sein, ihn immer wieder der Aufmerksamkeit jener in der höheren Vatikan-Hierarchie zu empfehlen, so konnte es an seinem weiteren Aufstieg gar keinen Zweifel geben - was Seiner Exzellenz, dem Erzbischof di Contini-Verchese nur Genugtuung bereiten konnte, denn er wollte den Kontakt zu Ralph de Bricassart auf keinen Fall verlieren.
Es war sehr heiß, doch nach der feuchten Luft in Sydney empfand Bischof de Bricassart die trockene Luft von Athen als recht angenehm. Mit raschen Schritten - wie gewöhnlich trug er unter der Soutane Reithosen und Stiefel - stieg er die hohen Stufen zur Akropolis hinauf. In erstaunlich kurzer Zeit war er oben. Am Erechtheion vorbei gelangte er über den mit Geröll besäten Boden zum Parthenon und stand dann an der Brüstungsmauer dahinter. Während der Wind in seinen schwarzen Haaren spielte, die an den Schläfen nun etwas angegraut waren, blickte er zum Hafen von Piräus und zum Ägäischen Meer mit seinem betäubenden Blau hinunter. Fast direkt unter ihm lag Plaka, der malerischste Bezirk der Stadt, und auf der einen Seite des steil abfallenden Hanges befand sich eine Art Amphitheater, ähnlich dem so berühmten von Epidauros. In einiger Entfernung sah er römische Säulen, venezianische Burgen, Kreuzfahrerfestungen - doch nirgendwo auch nur die geringste Spur aus der Türkenzeit.
Was für ein erstaunliches Volk, diese Griechen. Nach der Befreiung von einem fast siebenhundert Jahre dauernden Joch hatten sie keine einzige Moschee, kein Minarett ihrer Unterdrücker stehen lassen. Ein so uraltes Volk mit so reichem kulturellen Erbe! Als Perikles für den Wiederaufbau der Akropolis sorgte, waren die Römer kaum mehr als Dörfler gewesen und Bricassarts normannische Vorfahren in Felle gekleidete Barbaren.
Erst hier, viele tausend Kilometer von Australien entfernt, war es ihm möglich, ohne tiefe Verstörung und unerträgliche Beklemmung an Meggie zu denken. Dennoch fiel es ihm auch jetzt schwer, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Wie konnte er ihr wegen ihres Verhaltens Vorwürfe machen? Er verstand sehr gut, weshalb sie nicht gewünscht hatte, daß er von ihrer Hochzeit erfuhr. Weder sollte er ihren Mann kennenlernen noch Teil ihres neuen Lebens sein. Aber irgendwie hatte er doch immer angenommen, daß sie auch nach einer Heirat auf Drogheda oder zumindest in der Nähe von Gillanbone bleiben würde - dort jedenfalls, wo es
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