Die Dornenvögel
haben: sein Aussehen, seine Umgänglichkeit, ähnliches mehr. Und dann natürlich, und das nicht zuletzt, die Tatsache, daß sie ja »nur« ein Mädchen war. Ich habe eigentlich immer alles gehabt, dachte er. Woran hätte es mir je gefehlt? Ich werde an ihr wiedergutmachen, was ihr entgangen ist, nicht zuletzt durch mich. Zufällig fiel sein Blick auf seine Armbanduhr. Er stand sofort auf. »Ich muß jetzt gehen, Jus.« »Ach, du und deine blöde Kirche! Wann verliert sich das endlich bei dir?«
»Niemals, hoffe ich.« »Wann sehen wir uns wieder?«
»Nun, heute haben wir Freitag, also morgen natürlich. Um elf Uhr, hier.«
»Okay. Sei ein braver Junge.«
Er hatte sich bereits zum Gehen gewandt, die »Kreissäge« saß wieder auf seinem Kopf. Jetzt drehte er sich in den Schultern zurück und lächelte Justine zu. »Bin ich denn je etwas anderes?«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Gott bewahre, nein. Eigentlich bist du zu gut, um wahr zu sein. In der Klemme sitze ja immer nur ich. Bis morgen also.«
Die beiden Türflügel, die in die Kathedrale führten, waren innen mit rotem Leder gepolstert. Dane drückte einen auf und schlüpfte hinein. Nach Möglichkeit kam er immer eine kleine Weile vor Beginn des Gottesdienstes, ehe ihn die Menge ringsum mit ihrem Husten und Rascheln, Flüstern und Murmeln allzusehr stören konnte. Allein fühlte er sich hier stets viel wohler.
Vorn am Hochaltar war jemand damit beschäftigt, die Kerzen anzuzünden. Ein Diakon, wie Dane sofort sah. Der Junge tauchte die Hand ins Weihwasserbecken, machte das Zeichen des Kreuzes. Wenig später kniete er in einer Sitzreihe, die Stirn auf die gefalteten Hände gestützt.
Er betete nicht und betete doch. Niemals dachte er in solchen Augenblicken an bestimmte Worte und Wendungen. Es war, als ob er mit seinem ganzen Wesen einschmölze in die unverwechselbare Atmosphäre hier, in jenes Besondere, das gleichzeitig von körperloser Geistigkeit wie von fast beklemmender Dichte war. Manchmal fühlte er sich geradezu in etwas verwandelt, das so ähnlich war wie das Ewige Licht, jene kleine Lampe aus rötlichem Glas, die vor dem Tabernakel brannte. Immer und immer wieder flackerte sie, als wäre sie gerade am Verlöschen. Doch nie verlosch sie tatsächlich. Wovon Dane stets durchdrungen wurde, wenn er sich in einer Kirche befand, das waren: Stille, Gestaltlosigkeit, Vergessen seiner menschlichen Identität. Nirgends sonst fühlte er sich so im Frieden mit sich selbst, fern von allem Schmerz, am richtigen Ort. Oben bei der Orgel ertönte das Scharren vieler Füße. Der Knabenchor der Saint Mary Cathedral nahm Aufstellung, und der Organist ließ sein Instrument kurz probeweise erklingen. Offenbar sollte bis zum Beginn des Gottesdienstes noch ein wenig geübt werden. Es handelte sich nur um eine Votivmesse, aber Dane war gekommen, weil einer seiner Freunde und Lehrer von Riverview sie halten würde.
Wieder hörte man einige Orgelklänge, und dann brauste mit der ganzen Fülle, über die von allen Instrumenten nur dieses Instrument verfügt, die Weise auf und klang dann gedämpfter, jetzt nur noch Begleitung für die wie überirdischen Knabenstimmen, die schwerelos emporstiegen zum Gewölbe und den ganzen Raum füllten mit ihrer unendlichen Süße und Reinheit und Unschuld. Unwillkürlich schlossen die wenigen Menschen, die sich jetzt in dem riesigen Gotteshaus befanden, die Augen, und man hätte meinen können, daß viele von ihnen dem nachtrauerten, was für sie für immer verloren war.
»Panis angelicus Fit panis hominum, Dat panis coelicus Figuris terminum. O res mirabilis, Manducat Dominus, Pauper, pauper, Servus et humilis ...«
Brot der Engel, himmlisches Brot, o Ding der Wunder. Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr; Herr, höre meine Stimme! Neige dein Ohr meinem Flehen, o Herr, wende dich nicht ab. Denn du bist mein Herr, mein Gebieter, mein Gott, und ich bin dein demütiger Diener. In deinen Augen zählt nur, wenn man Gutes tut. Ob deine Diener schön sind oder häßlich, es kümmert dich nicht. Du schaust nur auf das Herz. In dir wird alles heil, in dir fühle ich Frieden. Herr, es ist einsam. Ich bete darum, daß er bald zu Ende sein möge, der Schmerz des Lebens. Niemand versteht, daß ich, der ich mit so vielen Vorzügen ausgestattet zu sein scheine, im und am Leben soviel Schmerz empfinde. Du jedoch verstehst, und es ist dein Trost, der mich stützt. Was immer du von mir verlangst, o Herr, ich werde es tun, denn ich liebe dich. Und wenn
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