Die Dornenvögel
die Familie auf Drogheda. Keine offizielle Nachricht oder Bestätigung war zu erhalten, und so flackerte wieder Hoffnung auf. Oh, gewiß würde sich alles doch noch als Irrtum herausstellen, denn sonst wüßte man amtlich inzwischen doch bestimmt Genaues!
Ein Klopfen bei Justine an der Eingangstür, ja, ja, genauso würde es sein, und der dann da draußen stand, war natürlich Dane, ein Lachen auf den Lippen, ein Lachen in den Augen. Was für ein Unsinn aber auch, der bloße Gedanke, daß er ertrunken sein könnte, ein so guter und kräftiger Schwimmer. Nein, nein, wirklich nicht, aber bei dem Umsturz, der sich gerade in Griechenland ereignete, konnte es in der Nachrichtenübermittlung schon zu grotesken Irrtümern kommen.
Ein Irrtum, ja gar kein Zweifel. Dane war nicht tot, war nicht
ertrunken.
Doch am Morgen des vierten Tages erhielt Justine dann jene genaue Nachricht, vor der sie sich so gefürchtet hatte. Mit den langsamen Bewegungen einer alten Frau wählte sie eine Nummer, bat um eine Fernverbindung mit Australien, Gillanbone eins-zwei-eins-zwei, und wartete dann.
»Mum?« fragte sie schließlich. »Justine?«
»Oh, Mum, er ist bereits begraben worden, wir können ihn nicht nach Hause bringen! Was sollen wir tun? Man konnte mir nur sagen, daß er irgendwo auf Kreta bestattet ist. Den Namen des Dorfes kennt man nicht. Bis das Telegramm eintraf, hatten ihn schon irgendwelche Leute fortgeschafft und beerdigt. Er liegt in irgendeinem nicht näher gekennzeichneten Grab! Ich kann für Griechenland kein Visum bekommen. Niemand ist bereit zu helfen. Es ist ein einziges Chaos. Was wollen wir tun, Mum?«
»Wir werden uns in Rom treffen, Justine«, sagte Meggie. Bislang hatten sie gezögert, Rom zu verständigen, weil es noch Hoffnung zu geben schien, daß sich das Ganze als ein lächerlicher Irrtum erwies. Auf Drogheda standen sie jetzt alle um das Telefon im Salon, nur Anne Müller fehlte. Die Männer schienen in den letzten drei Tagen um zwanzig Jahre gealtert zu sein, Fee glich einem völlig zusammengeschrumpften kleinen Vogel. Ruhelos hatte es sie durchs Haus getrieben, und unaufhörlich hatte sie vor sich hingemurmelt: »Warum konnte nicht ich das sein? Warum mußten sie ihn nehmen? Ich bin alt! Mir hätte es nichts ausgemacht zu sterben, warum also mußte er es sein? Hätten sie doch nur mich genommen! Ich bin alt!« Anne Müller hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten, Mrs. Smith, Minnie und Cat sah man nur noch in Tränen. Meggie legte den Hörer auf und blickte wortlos von einem zum anderen. Dies also war alles, was von Drogheda übriggeblieben war. Ein kleiner Haufen alter Männer und alter Frauen.
»Dane ist unauffindbar«, sagte sie. »Er liegt irgendwo auf Kreta begraben. Das ist so weit von uns weg! Wie kann er nur so weit von Drogheda ruhen? Ich werde nach Rom reisen, zu Ralph de Bricassart. Wenn uns irgend jemand helfen kann, dann er.« Der Sekretär trat zu Kardinal de Bricassart ins Zimmer. »Euer Eminenz, ich bitte die Störung zu verzeihen, aber da ist eine Dame, die Sie unbedingt sprechen möchte. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, daß Sie im Augenblick wirklich viel zu beschäftigt seien, um irgend jemanden zu empfangen, aber sie sagt, sie werde im Vorraum warten, bis Sie Zeit für sie gefunden hätten.« »Macht sie den Eindruck, daß sie in Not ist?«
»In großer innerer Not, Euer Eminenz, das ist leicht zu erkennen. Sie bat mich, Ihnen zu sagen, daß ihr Name Meggie O’Neill ist.« Hastig erhob sich der Kardinal. Aus seinem Gesicht war alles Blut entwichen. Es wirkte so weiß wie sein Haar. »Euer Eminenz! Ist Ihnen unwohl?«
»Nein, nein, schon gut, keine Sorge. Sagen Sie meine nächsten Verpflichtungen ab. Führen Sie Mrs. O’Neill sofort herein und sorgen Sie dafür, daß wir ungestört bleiben, es sei denn, der Heilige Vater verlangt mich.«
Der Sekretär verbeugte sich. O’Neill - dachte er im Hinausgehen. Natürlich! So hieß ja der junge Dane. Daran hätte er sich sofort erinnern müssen. Ah, da war ihm ein grober Schnitzer unterlaufen. Er hätte die Dame nicht warten lassen dürfen. Wenn Dane der innig geliebte Neffe Seiner Eminenz war, so war Mrs. O’Neill zweifellos seine innig geliebte Schwester.
Als Meggie eintrat, erkannte der Kardinal sie kaum wieder. Dreizehn Jahre war es her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war dreiundfünfzig, er war einundsiebzig. Nicht nur er alterte jetzt, sondern auch sie. Eigentlich hatte sich ihr Gesicht weniger
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