Die Dornenvögel
aller Sorgfalt wird die Seele gleichsam dazu entwickelt, ein Gefäß zu sein, das sich zu Gott hin öffnet. Es ist verdient, fast möchte ich sagen: mlient. Jeder einzelne Tag. Und das ist Sinn und Zweck der Gelübde, verstehen Sie? Daß sich nichts Irdisches zwischen den Priester und den Zustand seiner Seele schieben kann - nicht die Liebe einer Frau, nicht die Liebe zum Geld, nicht der Widerwille, den Befehlen anderer Menschen zu gehorchen. Armut ist für mich nichts Neues, ich stamme aus keiner reichen Familie. Das Gebot der Keuschheit akzeptiere ich, ohne daß es für mich schwer ist, danach zu leben. Und Gehorsam? Das ist für mich von den drei Forderungen die härteste. Doch ich gehorche. Denn wenn ich mich selbst für wichtiger halte als meine Funktion als Gottes Gefäß, so bin ich verloren. Ich gehorche. Und falls notwendig, bin ich bereit, Gillanbone als lebenslänglich« hinzunehmen.« »Dann sind Sie ein Narr«, sagte sie. »Auch ich bin der Meinung, daß es wichtigere Dinge gibt als körperliche Liebe, allerdings - die Funktion als Gefäß Gottes gehört nicht dazu. Sonderbar. Mir war nie bewußt, daß Sie so inbrünstig an Gott glauben. Ich habe Sie eher für einen Zweifler gehalten.«
»Ich zweifle auch, durchaus. Welcher denkende Mensch tut das nicht? Deshalb bin ich zu Zeiten leer.« Er blickte an ihr vorbei: zu irgendeinem Punkt, der für sie unsichtbar bleiben mußte. »Wissen Sie, ich würde allen Ehrgeiz und jeden Wunsch hingeben für die Chance, ein vollkommener Priester zu sein.«
»Vollkommenheit, worin auch immer«, sagte sie, »ist unerträglich langweilig. Was mich betrifft, so ziehe ich einen Hauch Unvollkommenheit vor.«
Er lachte und betrachtete sie mit einer Bewunderung, in die sich Neid mischte. Sie war wirklich eine bemerkenswerte Frau. Vor über drei Jahrzehnten hatte sie ihren Mann verloren, und ihr einziges Kind, ein Sohn, war schon sehr früh gestorben. Daß sie dem Gedanken an eine Wiederverheiratung über einen so langen Zeitraum hinweg aus dem Wege ging und sich den Versuchen gewisser ehrgeiziger Bewerber entzog, hatte einen recht einfachen Grund: Als Michael Carsons Witwe war sie eine Königin, heiratete sie jedoch wieder, mußte sie praktisch auf all ihre Macht verzichten - mußte sie abgeben an ihren neuen Ehemann. Doch Mary Carson war nicht die Frau, die sich damit begnügte, die zweite Geige zu spielen. Das entsprach ganz und gar nicht ihrem Charakter. Im übrigen hatte sie auch darauf verzichtet, sich einen Liebhaber zu nehmen, und dieser Entschluß paßte genau zu ihrem Wesen: Eine Liebschaft hätte sich mit Sicherheit nicht verheimlichen lassen und wäre für Gillanbone und die weitere Umgebung zum gierig aufgegriffenen Standardthema geworden - es war jedoch nicht Marys Art, sich menschliche Schwächen anmerken zu lassen.
Bei ihrem jetzigen Alter erschien Mary jedoch - offiziell, wenn man so will - immun gegen die Versuchungen leiblicher Lüste. Wenn sich der neue, junge Priester in der Erfüllung seiner Pflichten ihr gegenüber recht eifrig zeigte, und wenn sie ihn für diesen Eifer mit kleinen Geschenken wie etwa einem Auto belohnte, so erschien das keineswegs unangemessen. Ihr Leben lang war sie eine getreue Stütze der Kirche gewesen. Selbst zu den Zeiten, da Pater Kelly eine Messe nur mit Mühe und nicht ohne einiges Lallen zu Ende bringen konnte, hatte sie sich in adäquater Form als Rückhalt für die Gemeinde und deren nicht immer ganz standfesten Hirten bewährt.
Was Pater Ralph de Bricassart betraf, so war sie keineswegs die einzige, die ihm gegenüber Sympathien hegte. Verdientermaßen genoß er bei allen Gemeindemitgliedern, ob reich, ob arm, einen hohen Grad von Beliebtheit. Konnte eines seiner weiter entfernt lebenden Pfarrkinder nicht zu ihm nach Gilly kommen, so zögerte er nicht, sich seinerseits auf den Weg zu dem (oder den) Verhinderten zu machen, und bevor Mary Carson ihm das Auto geschenkt hatte, war er notgedrungen geritten. Seine Geduld und seine Freundlichkeit trugen ihm die Zuneigung aller und die Liebe einiger ein: Martin King (von Bugela) hatte das Pfarrhaus für eine recht stattliche Summe renovieren lassen, und Dominic O’Rourke (von Dibban-Dibban) kam für den Lohn für eine gute
Haushälterin auf. So fühlte sich Mary Carson auf jenem Piedestal, das sie auf Grund ihres Alters und ihrer Position einnahm, durchaus sicher genug, um an Pater Ralph ihr Vergnügen zu haben. Sie liebte es, ihre Intelligenz mit der seinen zu messen. Es war
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