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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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Matteo Vannoni von morgens bis spät in die Nacht nach Minh. Er lief das Feld, auf dem Costanza Marcantoni den Jungen zuletzt gesehen hatte, Quadratmeter für Quadratmeter nach Spuren ab, er brach ziellos durch dichtes Unterholz, er klapperte noch einmal alle allein stehenden Gehöfte im näheren Umkreis ab und fragte bei den Besitzern nach, ob sie vielleicht irgendwo auf die Reste eines grünen Papierdrachens gestoßen wären.
    Zu den Mahlzeiten kam er nach Montesecco zurück, verschlang wortlos und in sich gekehrt die Pasta, die ihm Antonietta aufgetischt hatte, und brach sofort wieder auf. Nachts schreckte er unvermittelt hoch, weil er den Schrei eines Kindes gehört zu haben glaubte, lauschte in den dunklen Raum, durch den die Ungeheuer huschten, die sich aus seinen Träumen davongestohlen hatten, und mußte lange den gleichmäßigen Atemzügen Antoniettas zuhören, um wieder in einen unruhigen Schlaf zu finden.
    Antoniettas Töchter Sabrina und Sonia, die sonst um spitze Bemerkungen nie verlegen waren, kommentiertendie verzweifelte Suche Vannonis mit keiner Silbe, und selbst Assunta Lucarelli hielt sich mit ihren Feindseligkeiten zurück. Offensichtlich hatte Antonietta verstanden, den anderen klarzumachen, wie sehr Vannoni unter dem Verschwinden seines Enkelkindes litt, und eine Schonfrist für ihn erwirkt.
    Doch eines Nachmittags, als Vannoni wieder nach seinen schlammverkrusteten Stiefeln griff, bemerkte er die Blicke, die sich Sabrina und Sonia zuwarfen. In ihnen drückte sich ein seltsames Gemenge aus Mitleid und Spott aus, das Vannoni wie ein Schwall kalten Wassers erwischte. Er richtete sich auf. Er sah sich selbst, wie er in zehn Jahren zum tausendstenmal über die immer gleichen Felder stapfte und kopfschüttelnd vor sich hin murmelte, daß der Junge doch irgendwo zu finden sein müßte. War er schon eine lächerliche Figur oder nur auf dem besten Weg, eine zu werden?
    »Was ist?« fragte er und stellte die Stiefel wieder auf den Boden.
    »Nichts«, sagte Sabrina leichthin.
    Antonietta sah von ihrer Tasse auf. Ihre Augen sagten Vannoni, daß sie ihn verstand oder zumindest akzeptierte, was er tat. Egal, was zwei junge Mädchen davon hielten. Doch Sabrina und Sonia waren nicht irgendwelche Mädchen. Vannoni begriff, daß er kämpfen mußte. Sein eigenes Leben war in Gefahr. Nicht wie das Minhs, keiner bedrohte ihn mit dem Tod. Es ging nur darum, daß er seinen Platz in diesem Haus behauptete, seine Zukunft an der Seite der Frau, die er liebengelernt hatte. Einer Frau mit zwei Töchtern, die froh waren, einen Grund gefunden zu haben, ihn nicht anerkennen zu müssen.
    Fast nebenbei wurde Vannoni klar, daß er nicht nur durchs Gelände gehetzt war, um Minh zu finden, sondern mindestens genausosehr, weil er dabei sein schlechtes Gewissen loswerden wollte. Doch das konnte man nicht abhängen, indem man rastlos und immer schneller lief. Ermußte sein Versagen akzeptieren, er mußte innehalten, durchatmen, kalt werden, nachdenken, zuschlagen.
    »Kommt ihr mit?« fragte Vannoni.
    »Ich muß an meiner Seminararbeit weiterschreiben«, sagte Sabrina.
    »Ich habe später eine Verabredung«, sagte Sonia.
    »Ihr glaubt, die Suche bringt nichts?« fragte Vannoni.
    »Ich weiß nicht«, sagte Sonia. Sie schlürfte an ihrem Espresso.
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte Sabrina.
    »Das ganze Dorf hat vergeblich gesucht«, sagte Sonia.
    »Und Minh hat sich nicht verlaufen, er ist entführt worden«, sagte Sabrina in dem vorsichtig-verständnisvollen Ton, mit dem man einen nicht ungefährlichen Verrückten auf den Boden der Tatsachen zurückzulenken versucht.
    Vannoni nahm das kühl zur Kenntnis, er regte sich nicht auf. Mit Machtspielchen kannte er sich aus, das hatte er in seiner Jugend bei Lotta Continua gelernt und in jahrelangen politischen Diskussionen schon perfektioniert gehabt, als die beiden Mädchen noch gar nicht auf der Welt gewesen waren. Sie hielten ihn für lächerlich? Sie würden schon sehen. Er brauchte nur ein wenig herumzureden, um sie in die Tasche zu stecken. Wenn er wollte, konnte er sie davon überzeugen, daß die Erde ein weichgekochtes Ei war. Jetzt wollte er.
    Es ging nicht mehr nur um die Sache, von der er sprach, und deswegen hatte Vannoni keinerlei Bedenken, alles, was ihm gerade durch den Kopf schoß, als Ergebnis sorgfältiger Überlegungen auszugeben. Er sagte: »Mir kam gleich merkwürdig vor, daß in der Lösegeldforderung die Art der Geldübergabe nicht einmal andeutungsweise erwähnt wurde.

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