Die Drachenjägerin 1 - Winter, M: Drachenjägerin 1
Gestammel gewöhnt.
Vor ihnen schwangen die großen Torflügel auf, und das Quietschen der Kette zerriss den Morgen.
» Du bist sehr früh unterwegs«, bemerkte er leise, jedoch mit etwas festerer Stimme. » Und ohne Korb.« Hoffnung brandete in ihr auf, denn da war wieder diese Nähe, der sie nicht widerstehen konnte, diese Vertrautheit zwischen ihnen, die nicht vieler Worte bedurfte.
» Ich muss … ich habe etwas Besonderes vor, außerhalb der Stadt.« Vielleicht werde ich sterben. Denn ich habe mich entschieden. Ich bringe ihm den Stein nicht. Ich breche den Pakt des Hohen Spiels. Ich vergebe die Chance, Nat Kyah auf den Roten zu hetzen und meinen Vater zu rächen. Irgendwann tue ich es selbst … Wenn ich denn so lange lebe. Nur aus diesem Grund bringe ich dem Drachen den anderen Schmuck. Damit er mir verzeiht.
Sie schluckte. Willst du es nicht hören, Nival? Dies ist, was ich bin. Ich bin zu schwach dafür. Ich kann den König nicht länger bestehlen. Dann hörte sie sich selbst sagen: » Nival?« Merkte er denn nicht, wie sie seinen Namen aussprach? So, als wäre er ihr einziger Trost? » Willst du mich nicht begleiten? Das würde mir sehr viel bedeuten.«
Sie würde es ihm verraten. Dass die Zeit um war. Dass sie zu einem Drachen gehen musste, dass sie sich fürchtete, mehr, als sie sich je vor einem seiner Artgenossen gefürchtet hatte, denn Nat Kyah war nicht irgendein wildes Tier. » Einen Freund an meiner Seite auf diesem Weg. Das brauche ich jetzt.«
Vielleicht sterbe ich heute. Würde es dir etwas ausmachen? Würdest du mich vermissen?
Sie waren unter dem Torbogen hindurchgeschritten, hier teilte sich die Straße. Vor ihnen ging es hoch zum Schloss. Nival hatte ihr immer noch keine Antwort gegeben.
» Bitte«, sagte sie, sie dachte: Wenn er so empfindet wie ich, wird er es tun.
» Ich kann nicht«, brachte er heraus, heiser, die Augen umwölkt. » Bitte, versteh – wenn ich heute nicht komme, verliere ich meine Stelle.«
Ihre Kehle schnürte sich zu. » Du könntest sagen, du seist krank gewesen.«
Nival schüttelte den Kopf. » Die ausländischen Gesandten … ich muss dabei sein, Linnia. Es geht um wichtige Verträge zwischen Schenn und Tijoa. Pivellius ist furchtbar gereizt, und … und … ich fürchte, dass nicht alles so läuft, wie es sollte.«
Linn schluckte. » Aber du bist nur der Geselle. Reicht es denn nicht, wenn dein Meister dabei ist? Heute Abend sind wir doch wieder zurück … Bitte.«
» Ich kann nicht«, flüsterte er, und diesmal vermochte sie die Tränen nicht zurückzuhalten.
Sie ließ ihn an der Kreuzung stehen und marschierte einfach los, blindlings, und als sie sich noch einmal umdrehte, hoffte sie, er würde ihr nachkommen. Aber Nival hatte sich bereits an den Aufstieg zum Schloss gemacht. Sie sah seinen hellen Mantel in der Dämmerung schimmern.
» Dann eben nicht, Herr Nival«, sagte sie bitter.
Mehrere Stunden hatte sie zu laufen und wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Nat Kyah zu besänftigen, war ihre einzige Chance, diesen Tag zu überleben. Der gestohlene Schmuck klirrte in ihrem Beutel.
Genug Zeit, um sich ausgiebig über Nival zu ärgern. Wenn ich jetzt sterbe, ohne Abschied, geschieht es ihm ganz recht!, dachte sie wütend. War sie ihm denn völlig egal? Wie konnte er es wagen, sie derart zu behandeln? Hatte sie ihn so überrumpelt?
Wenn sie ihn nur als den jungen Schreibergesellen gekannt hätte, hätte sie das vielleicht sogar geglaubt. Aber sie hatte gesehen, wie er kämpfte. Ein Mann, der sich traute zu zaubern – auch wenn er darin versagte. Der nicht davor zurückschreckte, eine magische Waffe zu benutzen – oder, falls er in dieser Hinsicht gelogen hatte –, der besser kämpfen konnte, als es einem Beamten anstand. Schreiber und Messerwerfer. Der die wahnwitzige Hoffnung hegte, einmal Ratgeber des Königs zu werden. Einer, der stotterte, stammelte, rot wurde – aber keinen Schmerz fürchtete. Konnte ein solcher Mann wirklich so panisch reagieren, nur wegen eines entgleisten Bruderkusses?
Nival war ihr nach wie vor ein Rätsel.
Wieso vermochte er nicht zu fühlen, was sie fühlte?
Linn sammelte Zorn und Enttäuschung in sich, während sie durch die Hügel marschierte, aber als sie sich dem Tal näherte, stoben diese Gefühle wie eine Staubwolke davon, und zurück blieb nur die bange Erwartung: Wird Nat Kyah zufrieden sein?
Er musste es. Ich habe getan, was ich konnte, würde sie sagen. Schaut, wie schön das Gold glänzt. Freut Ihr
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