Die Drachenjägerin 1 - Winter, M: Drachenjägerin 1
Mann mit stolzen Augen zeigte. Linn war so an dieses Porträt gewöhnt, dass sie es kaum noch wahrnahm. Jeder Maler gab dem legendären Helden das Aussehen, das ihm angemessen schien, stattete ihn mit einer immensen goldenen Krone aus oder hängte ihm das Medaillon mit dem Bildnis seiner Gattin um den Hals, dieses kleine Bild, das ihn dazu gebracht hatte, sich in ein fremdes Mädchen zu verlieben, für sie durch die halbe Welt zu reisen und sich in die Drachenhölle zu begeben, um sie zu retten. Für Linn würde Brahan immer so aussehen wie dieses Gesicht an der Wand: vornehm blass, die Lippen aufeinandergepresst, als hätte er gerade den Entschluss gefasst, der sein Leben ändern würde.
» Unseren Helden und seine Prinzessin haben sie getötet«, fuhr Merina leise fort, nicht im Geringsten geneigt, nach achthundert Jahren diese Tat zu vergeben, » seinen Sohn Het-Kian und dessen kleines Kind, seine Tochter Sanaka und Laran. Sie haben Laran getötet, den größten Helden, der je gelebt hat!«
Das ist gar nicht erwiesen, wollte Linn sagen, aber wie hätten Geschichten aus Tijoa, zweifelhafte Abweichungen aus dem Mund listiger Kaufleute, mehr gelten können als Legenden aus Schenn? » Das ist Hunderte von Jahren her! Und dieser Kaufmann war … nett. Ein ganz normaler Mann, der von irgendwas leben muss, wie wir alle.«
» Du findest wohl alle nett, die dich küssen wollen«, giftete Merok, doch zum Glück sprach er so leise, dass seine Mutter den Einwurf überhörte.
» Dass sie nicht mehr unsere Feinde sind, heißt noch lange nicht, dass sie uns Gutes wünschen. Tijoa hat sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Wenn wir Brot essen, muss es für sie Früchtebrot sein, wenn wir Zwiebeln haben, dann ist es bei ihnen mindestens Lauch aus Samaja. Wir hatten einen Helden? Also mussten sie einen größeren Helden haben … Nichts ist ihnen gut genug, und nun wollen sie unsere Kinder mit ihrem Spielzeug und ihren Betrügereien verführen? Für sie waren wir schon immer töricht und einfältig. Heute bin ich geneigt, ihnen zu glauben. Wie dumm kann man eigentlich sein?«
Lester stand im Hintergrund und knetete unbehaglich seine Hände. Er schwieg, selbst als seine Frau ihn anfuhr, er solle auch endlich mal etwas sagen.
» Wir hätten uns alle zusammen auf den Büttel stürzen sollen«, meinte Merok, den die Strafpredigt wenig beeindruckt hatte. Sonst war er immer sehr empfindlich, was Tadel anging; er lebte von der Anerkennung seiner Eltern. Doch die Ereignisse auf dem Dorfplatz wirkten noch nach. Auch Linn hatte das Gefühl, dass sie nicht einfach so weitermachen konnten wie bisher. Sie hatte wohlweislich nicht erzählt, dass sie selbst Rinek auf die unheilvolle Idee mit der Wette gebracht hatte. So konnte sie sich mit den anderen hingebungsvoll über die Gemeinheit des Büttels und des Vogtes und der ganzen bösen Welt auslassen.
» Es war furchtbar ungerecht«, sagte sie. » So etwas können wir doch nicht dulden. Wir müssen uns beim Vogt beschweren.«
» Sei still!«, fuhr ihre Mutter sie an. » Niemand beschwert sich beim Vogt. Sollen die anderen zu ihm laufen, wenn sie meinen, aus unserer Familie geht jedenfalls niemand!«
» Aber …«
» Wir leben dankbar und bescheiden. Ist das klar?«
Mit funkelnden Augen baute die Müllerin sich drohend vor ihren Kindern auf.
» Und jetzt an die Arbeit, alle miteinander. Ihr müsst Rinek ersetzen, solange er seine Strafe absitzt.«
Und wenn er zurückkommt?, dachte Linn. Wird er überhaupt arbeiten können? Vielleicht verprügeln sie ihn so sehr, dass er den Weg nach Hause gar nicht schafft.
» Linn.« Ihre Mutter hielt sie auf, als sie gerade hinausschlüpfen wollte. » Warte. Du musst eines wissen.«
» Ja?«
Merina zögerte und biss sich auf die Lippen. » Der Vogt hat uns geholfen, als wir in einer verzweifelten Lage waren. Das solltest du niemals vergessen. Egal, was seine Büttel treiben und ob du dich ungerecht behandelt fühlst – was wir hier genießen, dass wir die Mühle pachten dürfen und dass es uns eigentlich recht gut geht, verdanken wir ihm. Also beruhige dich. Hüte deine Zunge. Halte dich von der Obrigkeit fern. Wir können keinen Ärger gebrauchen.«
» Was hat er denn für uns getan?«, fragte Linn neugierig.
Doch es war wie immer – sobald sie anfing, Fragen zu stellen, verschwand Merinas Lächeln, und es war, als würde ein Schleier vor ihre Augen fallen.
» Das braucht dich nicht zu interessieren«, sagte sie schroff.
Aus
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