Die Drachenjägerin 2 - Winter, M: Drachenjägerin 2
der Lage zu fliehen. Irgendwann wird es zu spät sein, und du wirst dir nicht einmal mehr wünschen können, du hättest es getan.
Ein Bild, das ihn mehr quälen würde als jedes andere … aber nicht Chamija hatte es gewoben mit den Farben ihrer Phantasie. Vielleicht war das das Schlimmste: zu wissen, dass es kein Trugbild war, kein Zauberwerk. Es war echt, er hatte es gesehen, mit eigenen Augen, und unzählige Leute mit ihm. Wie Linnia Arian nach Hause brachte. Warum nicht Gunya? Warum nicht Dorwit? Warum musste ausgerechnet sie das tun, seine Linnia, seine Schöne, sein Mädchen, seine Braut?
Weil sie nicht deine Linnia ist. Weil sie es nie war. Sie war schon immer die Verlobte eines anderen. Wenn sie dich je so geliebt hätte wie du sie, hätte sie dir verziehen, dass du deine Geheimnisse nicht so schnell und leicht aufgeben konntest. Geheimnisse sind nicht wie Kleidungsstücke, die man beliebig ablegen kann. Sie verwachsen mit der Haut. Es ist, als würde man dir ein Emblem auf die Haut nähen; es herauszureißen wäre dein Ende. Man muss es ganz sacht auftrennen, Stich für Stich, Vertrauen für Vertrauen … vorsichtig. Langsam.
Wenn sie ihn je geliebt hätte, sie hätte es verstanden. Die Mauern um ihn her schienen sich zu drehen. Jikesch wurde schwindlig, während um ihn herum Menschen hin und her eilten, geschäftig, während einige nach Heilern schrien, während andere wissen wollten, was passiert war – » Wirklich? Der Prinz? Der Prinz stirbt?« –, doch er sah nur Linnia und Arian und wie Chamijas Rock um ihre Beine schwang …
Dann kniff er die Augen zu, ballte die Fäuste, und als er schrie, einen bösen wilden Ruf wie ein aufgestörter Blätterdachs, und die verwirrten Blicke der Wachen und Mägde auf sich spürte, wurde er endlich ruhiger.
» Wo ist sie?«, murmelte er. » Alle sind herausgekommen, nur sie nicht. Denk nach, du Narr. Lass dich nicht blenden, von nichts und niemandem. Wo ist sie hin?«
Er eilte in den Stall, und dort fand er Linnia in einem Winkel, ins Heu gekuschelt, fest schlafend.
» Hier bist du«, flüsterte er. » Lebendig. Immer noch lebendig. Ist der Drache unter deinen Händen gestorben? Oder war es diesmal der Prinz, wie sie sagen? Geben sie Brahans Erben diese letzte Tat, damit er den Ruhm mit ins Grab nimmt, seine allerletzte Heldentat? Darf er ein bisschen wie Laran sein, jetzt am Schluss?«
Er hockte sich neben sie und betrachtete im Dämmerlicht des Stalls ihr schönes Gesicht. Behutsam streckte er die Hand aus und strich ihr Haar zurück, das ungewohnt kurz war, eine rötlich braune, buschige Mähne, die ihr Gesicht blass und schmal erscheinen ließ. Kindlich sah sie aus, während sie schlief, immer noch den Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf den Zügen. Der bittere, aschige Geruch des Feuers umgab sie wie ein dunkler Umhang, und etwas noch Dunkleres blühte auf ihrem Nacken. Jikesch beugte sich über sie und entdeckte die große Wunde hinten an ihrem Hals, die zwischen ihren Schulterblättern verschwand.
» Meine Schöne«, sagte er erschrocken. » Der Kuss des Drachen, zeichnet er deine glatte Haut? Wie bist du hergekommen, die Krallen des Drachen im Nacken?« Er sprang auf und sah sich um, doch niemand kümmerte sich um Linn. Die Knechte waren mit den erschöpften Pferden beschäftigt, sprachen über ihre Verletzungen, berieten über Salben und Tinkturen.
» Salben«, sagte Jikesch. » Das ist es. Warum sitze ich noch hier? Ich weiß, was du brauchst. Und wie du es bekommst.«
Er schob einen Arm unter ihre Kniekehlen, den anderen unter ihre Schultern. Behutsam hob er sie auf und stand schwankend da. Dann straffte er sich und wirkte einen ganzen Kopf größer als eben noch.
Seine Erscheinung mit dem violetten Kostüm und der goldenen Mütze hätte nicht auffälliger sein können, doch jetzt kam ihm zugute, dass er das Schloss wie seine Westentasche kannte. Vom Rossstall zum Viehstall und von dort über die Schuppen und den Hühnerverschlag erreichte er unbemerkt den Dienstboteneingang. Die Winkel und Treppen, Flure und ungenutzten Zimmer waren ihm alle vertraut. Seine kostbare Last im Arm eilte er durch die Gänge, verschnaufte in einer Nische hinter der Statue eines anmutigen jungen Mädchens und stand schließlich vor der Tür, die zu Nivals Schreibstube führte. Jikesch sah sich noch einmal um, bevor er aufschloss und Linnia auf das schmale Bett legte. Schnell eilte er zurück zur Tür und machte sie sorgsam wieder zu.
Es war so dumm,
Weitere Kostenlose Bücher