Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
Händchen streichelte er über Nihals Wange. »Aber auch du selbst hast gelitten, es waren nicht immer nur andere, die sich opferten«, sagte er. »Jahrelang hast du dich gequält, und als du endlich deinen Frieden gefunden hattest, erklärte man dir, dass du ihn noch einmal aufs Spiel setzen müsstest. Erneut griffst du zum Schwert, und gegen deinen Willen machtest du dich auf den Weg und gelangtest schließlich hierher. Mehr als alle anderen hast du gelitten, Nihal. Der Schmerz ist aber kein Selbstzweck. Daher erhebe dich nun und bringe dem Vater des Waldes die tödliche Verwundung bei. Nimm dir den Stein!«
Nihal hob den Blick und betrachtete den Baum, durch den das Leben strömte. Langsam streckte sie die Hand aus, und dabei sah sie Phos die Augen schließen und begriff, dass auch er litt, trotz all dem, was er ihr gerade gesagt hatte, oder vielleicht auch gerade deswegen. Denn zusammen mit dem Vater des Waldes würde auch seine eigene Welt vollständig untergehen.
Nihal ergriff den Stein und spürte, wie er pulsierte, sich gegen die Kraft stemmte, die ihn aus dem Holz reißen wollte. Gegen ihren Willen musste die Halbelfe energisch ziehen, bis es ihr gelang, ihn von seinem Platz zu entfernen. Und mit einem Mal verdorrte das Holz, die Blätter fielen ab, das Licht, das den Baum erhellt hatte, erlosch, und das Gras um seine Wurzeln herum wurde gelb.
Phos blickte zu Boden und setzte sich auf eine der Wurzeln. Nihal hielt den Stein in der geöffneten Handfläche. Er wirkte nun matter: Er war weiß, fast so wie der Edelstein in der Mitte, und von gräulichen Adern durchzogen. Nihal brauchte nur noch die Formel zu sprechen, und der Talisman war vollständig. Er erstrahlte in einem grellen Licht, und Nihal spürte, dass ihm eine ungeheure, nahezu unkontrollierbare Kraft innewohnte. Das Ziel ihrer Reise war erreicht.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie den Kobold.
Phos zuckte mit den Achseln und blickte sie an. »Ich werde hier bleiben und auf das Ende warten. Die Geschichte der acht Steine und ihrer Heiligtümer in der Aufgetauchten Welt wird an dem Tag erfüllt sein, an dem du, zum Guten oder zum Schlechten, den Zauber heraufbeschwörst. Auf diesen Tag werde ich warten und miterleben, ob es ein Tag der Freude oder des Schmerzes sein wird. Alles, was mich an diese Welt bindet, befindet sich hier.«
»Wenn du möchtest, kannst du auch mit mir kommen. Wir sind beide traurig und allein und könnten unser Leid teilen.«
Phos schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, dies ist mein Zuhause. Hier möchte ich bleiben. Zudem habe ich auch gar nichts mehr zu tun, du hingegen hast noch Großes zu voll bringen. Dein Traum, deine Ideale können Wirklichkeit werden. Unsere Schicksale sind nicht gleich.«
Nihal holte den Dolch aus dem Stiefel und betrachtete ihn lange. Sie war sehr versucht, die Klinge aus dem Futteral zu ziehen. »Weißt du, wo er ist?«, fragte sie Phos. Der Kobold senkte den Blick. »Die Zukunft ist unsicher geworden, sogar für uns Wächter. Ich weiß nicht, wo er sich aufhält, noch, ob er in Freiheit ist. Sicher ist jetzt nur deine Hoffnung.«
Nihal steckte den Dolch zurück.
»Sei zuversichtlich«, fügte Phos noch mit dem schelmischen Lächeln früherer Zeiten hinzu und sagte ihr Lebwohl.
35. Der Tyrann
Tropjen. Tropjen, die in kurzer Entfernung zu Boden fielen. Ein gleichförmiges, nervtötendes Pling ..., Pling ..., das sich wie ein Keil in seine Schläfen bohrte. Er konnte sie nicht sehen, denn die Finsternis war undurchdringlich, aber er hörte sie, und dieses Geräusch brachte ihn fast um den Verstand. Dabei gab es an diesem Ort genügend andere, schrecklichere Laute: Schreie vor allem, unmenschliche Schreie, schwere Schritte, Schwerterrasseln. Zunächst hatten sie ihm Angst gemacht, doch nun war seine ganze Wahrnehmung auf diese monoton fallenden Tropfen ausgerichtet, die ihn dem Wahnsinn nahe brachten.
Plötzlich hörte er ein anderes Geräusch, das näher kam. Schritte. Er lächelte. Diese Schritte kannte er, das konnte nur er sein. Dass er ihn früher oder später wiedersehen würde, hatte er gewusst, nicht aber, dass er zu ihm herunterkommen würde. Als er ihn zum ersten Mal sah, konnte er es nicht fassen. Das sollte der Tyrann sein? Und gleichzeitig wurde ihm klar, dass er diese Festung nicht mehr verlassen würde, nicht nachdem ihm der Tyrann sein Gesicht gezeigt hatte. Und er zitterte bei dem Gedanken daran, wie Nihal ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde. Die
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