Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
zögerlich kam. Er war ein Verirrter, Nihal spürte es, wollte es aber nicht wahrhaben, genauso wenig wie sie seinen Worten Glauben schenken wollte. Die Fammin waren Ungeheuer, unzählige von ihnen hatte sie auf dem Schlachtfeld niedergemetzelt. Und doch wusste sie, dass Vrasta die Wahrheit sprach. Aber wo lag dann das Gute und wo das Böse? Waren die Menschen nicht die wahren Ungeheuer? Und war nicht auch sie selbst, die ja aus freiem Antrieb tötete, nicht schlechter als jene, die zum Töten gezwungen wurden? Vrasta blickte ihr ins Gesicht. »Töte mich!«, forderte er sie auf.
Nihal war zu verblüfft, um etwas zu erwidern.
»Ich möchte Laio nicht töten. Von ihm habe ich gelernt, was das Leben sein kann. Er ist mein Freund, er hat mir beigebracht, was Freundschaft ist. Doch sollte mich jemand beim Namen rufen, müsste ich ihn töten, und dich auch. Aber das will ich nicht. Also töte mich!«
Nihal biss die Zähne zusammen, um eine Entschlossenheit bemüht, die ihr vollkommen fehlte. »Und ob ich das tue. Darum musst du mich nicht bitten.«
Sie nahm das Schwert in beide Hände, hob es an und richtete den Blick auf den Hals des Fammin. Jetzt brauchte sie es nur noch niederfahren zu lassen, und das Problem wäre gelöst. Dieses Wesen war eine Gefahr, sie musste es beseitigen. Das Schwert in ihren Händen zitterte.
»Töte mich«, bat Vrasta sie noch einmal. Seine Stimme klang jetzt menschlich, hatte nicht mehr diese kehlige Färbung, die Nihal immer wieder an Livons Tod erinnerte. Es war kein Mörder, der hier um den Tod bat, sondern ein Gefangener. Nihal ließ das Schwert sinken.
»Jetzt nicht, ich will nicht«, murmelte sie.
»Aber ich bin eine Bedrohung ...«, protestierte Vrasta.
»Ich werde nicht zulassen, dass du mich oder meine Gefährten tötest«, beruhigte ihn Nihal. »Solange ich da bin, bist du harmlos.« Und begleitet vom Schmerz des Fammin, ging sie davon.
Am nächsten Morgen, als alle auf den Beinen waren, verkündete Nihal ihre Entscheidung: »Vrasta kommt mit uns, als eine Art Gefangener. Wir können ihn nicht zurückschicken, denn er würde von uns berichten, und würden wir ihn töten ...« Sie zögerte. Es widerstrebte ihr einzuräumen, dass sie sich gescheut hatte, ihn zu töten. Dann sah sie Laios hoffnungsvollen Blick und fuhr fort. »Und töten wir ihn, schickt man vielleicht andere Fammin aus, um ihn zu suchen, und wir liefen Gefahr, aufgespürt zu werden.«
Die Erklärung war nicht sehr schlüssig, aber niemand machte sie darauf aufmerksam. »Gegebenenfalls tun wir so, als hätte er uns gefangen genommen, so kommen wir vielleicht ungehindert durch das feindliche Gebiet«, schloss Nihal. Sie erwartete keine Einwände und wich Vrastas Blick aus, der als Einziger gänzlich unzufrieden schien mit dieser Entscheidung. Sie stand auf, und bald darauf setzten sie sich wieder in Marsch.
Einen Tag nach dem Wiedersehen mit Laio kamen sie in das Land der Nacht. Das Licht in dem Sumpfgebiet war den ganzen Tag über dämmrig gewesen, und ganz plötzlich brach die Dunkelheit herein. Es war eine eigenartige Finsternis. Kein Stern stand am Himmel und auch kein Mond, über allem lag nur ein eigenartiges diffuses Licht, ein wenig wie in einer Vollmondnacht.
»Da wären wir also«, bemerkte Laio. Nihal wandte ihm den Blick zu. »Das ist meine Heimat, das Land der Nacht.«
Laio war erst zwei Jahre alt gewesen, als er diese Gegend verließ, und hatte so gut wie keine Erinnerungen daran. Seine Eltern waren so lange dort wohnen geblieben, wie sie ihre Ablehnung der Tyrannenherrschaft und ihre Unterstützung des örtlichen Widerstands hatten geheim halten können. Als dann ein erster Verdacht auf sie fiel, zogen sie es vor, ihrem Sohn zuliebe aus dem Land zu fliehen. Aufnahme fanden sie im Land des Wassers, wo Laios Vater dann jene düstere Villa errichten ließ, in der Nihal einmal Gast gewesen war. Laios Mutter starb während ihrer zweiten Schwangerschaft, und so blieben Vater und Sohn allein zurück. Häufig erzählte Pewar dem Jungen von ihrer Heimat, von jenem in ewige Finsternis getauchten Land, das er so liebte. Und so hatte sich auch in Laio ein Heimatgefühl entwickelt, und immer schon hatte er sich danach gesehnt, sein Geburtsland einmal zu sehen.
Als sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten, sonderte Nihal sich ein wenig von den anderen ab und befragte zum ersten Mal den Talisman. Dabei spürte sie, dass dessen Kräfte zugenommen hatten, nicht verwunderlich, da schon die Hälfte der
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