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Die Drachenperle (German Edition)

Die Drachenperle (German Edition)

Titel: Die Drachenperle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Lüer
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kämpfen, hatte ihn sogar inständig angefleht. Aber wie konnte sie das nur von ihm erwarten? Er wollte kein Sklavenleben führen.
    Wieder hörte er Stimmen, wie aus weiter Ferne. Sie klangen aufgeregt, ängstlich. Taiki fühlte, wie er immer schwächer wurde. Ihm wurde klar, dass es höchste Zeit für die Entscheidung war. Wollte er als Herrscher in einer Scheinwelt leben, die langsam erfror und somit in der realen Welt sterben? Oder wollte er den Wunsch seiner Mutter erfüllen und wirklich leben, wenngleich dies für ihn bedeutete, als Sklave zu leben? Er hatte von ihr erfahren, dass er „der Letzte seiner Art“ war, sein Leben war also etwas bewahrenswertes , warum auch immer. Taiki spürte solch eine heiße Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Er wäre so gern seiner Mutter in die Ewige Welt der Seelen gefolgt. Doch was, wenn er seine Mutter dort fand und sie wäre von ihm enttäuscht, weil er sein Leben nicht gelebt hätte? Nein, das wäre nicht zu ertragen. Er wollte nicht nur ihre Liebe, er wollte auch ihren Stolz, ihre Anerkennung. Er wollte zeigen, dass er ein würdiger Sohn war. Seine Entscheidung stand nun fest: er wollte ein echtes Leben und zurück in seinen Körper aus Fleisch und Blut.
    Taiki wandte sich zu der schimmernden Fläche um. Das Bild war nun ein anderes. Zwei in Lumpen gekleidete Männer beugten sich besorgt über einen der Ihren, der leichenblass in einer Blutlache lag. Sie sprachen aufgeregt miteinander und flößten ihm vorsichtig Wasser ein. Sein Blut sickerte langsam aus einer Kopfwunde in den Sandboden ein. Da war er also, sein Körper, da lag der wahre Taiki und seine Lebenskraft sickerte mit dem Blut hinaus.
    „Nein! Ich will das nicht, ich will nicht sterben, ich will zurück. Aber wie? Tempelwasser, zeige mir , wie ich zurückkomme!“
    Die Schale auf der marmornen Säule gluckerte und es formte sich ein Bild eines unvollendeten Kreises. Es verschwand wieder, und aufs Neue erschien ein Punkt, der sich zu einer Linie verlängerte, sich kreisförmig krümmte und zu seinem Anfang strebte. Aber bevor der Weg sich vollendete, zerfiel das Bild des Kreises. So ging es eine ganze Weile lang, bis Taiki endlich dieses Bild begriff. Er hatte sich im Wald im Kreis bewegt, und er musste zurück an den Anfang! Zurück in den Frostwald zum Baum des Erlösers.
    Alles Wasser floss nun in Eile zurück in die Schale und gab den Weg frei. Taiki taumelte die Stufen hinunter und fiel ins Gras. Er hatte einfach keine Kraft mehr zum Laufen, so sehr er es auch wollte.
    „Kim, komm und hilf mir bitte!“
    Das Irrlicht, das immer noch am Inselufer mit Mellon zusammen wartete, flackerte vor Erleichterung heftig a uf. Es wusste instinktiv um di e Entscheidung, war es doch innig mit Taiki verbunden. Pfeilschnell war es bei ihm.
    „Was soll ich für dich tun, Erlöser?“
    Taiki flüsterte: „Zum Baum, bring mich zum Baum , wo du mich gefunden ha tte st. Dort hat es begonnen, dort wird es enden.“
    Kimkimdraorkim weitete seinen Radius aus und hüllte den nun fast bewusstlosen Jungen in sein Licht ein. So schnell es konnte, flog es mit ihm von der Insel weg, hinein in den Wald. Behutsam navigierte es durch die zahllosen Bäume.
    Mellon blieb allein zurück. Das Geschöpf mit dem so unwahrscheinlichen Körper und den schönen, gefühlvollen Augen stolperte über die Tasche, die sein Herr und Freund dort vergessen hatte. Mellons Fell sträubte sich, denn es wusste um die Perle der Weisheit darin. Mit einem schlechten Gewissen, weil es den Verlust nicht eher bemerkt hatte, nahm es die Tasche zwischen die Zähne und lief damit so schnell es konnte um den See herum, zurück in den Wald. Mit seiner inneren Stimme rief es nach Kimkimdraorkim, doch das Irrlicht war so sehr auf den Flug konzentriert, dass es Mellons kleines Stimmchen nicht wahrnahm.
     
    Madox fühlte, dass das Schicksal sich gewendet hatte. Es war ihm, als wäre die Luft weicher geworden, wärmer. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass der vor kurzer Zeit plötzlich machtvoll hereingebrochene Schneesturm sich deutlich abschwächte. Er fühlte eine große Erleichterung. Der Erlöser musste den Tempel gefunden haben! Rasch warf er sich seine lange Felljacke über, nahm den Wanderstock und verließ die Hütte. Fast wäre er auf der obersten, zerborstenen Stufe ausgeglitten. Er hatte sie immer noch nicht repariert. Der Schnee lag nun kniehoch. Ohne genau zu wissen, wohin es ihn zog, schritt er eifrig aus, so schnell seine alten Beine ihn trugen.

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