Die drei Frauen von Westport
schiefergrauenWolken brach.
»Mein Gott!«, sagte Annie, beeindruckt von der Schönheit des Anblicks.
»Mein Gott!«, echote Miranda, schaute jedoch nicht auf den erleuchteten Spalt in denWolken. Sie starrte auf eine Gestalt, die am Strand näher kam, erleuchtet von dem grellen Sonnenstrahl. Die Gestalt winkte.
»Oh, Annie«, rief Miranda aus. »Er ist es! Es ist Kit! Er ist wieder da!«
»Nein, das glaube ich nicht …«, sagte Annie, aber Miranda rannte schon auf den Mann zu.
»Miss!«, rief er gegen Wind undWellen an. »Sie haben Ihren Schal verloren!«
Miranda blieb abrupt und entmutigt stehen; es war doch nicht Kit.
Dann schrie sie plötzlich vor Freude auf. »Nicky!«, schrie sie. »Es ist Nicky!«
Was nicht mehr nötig war, denn Annie hatte die Stimme sofort erkannt und war herbeigesprintet, um ihrem jüngeren Sohn um den Hals zu fallen.
»Ich dachte, du wärst jemand anderer«, sagte Miranda, »aber du bist es, ach kleiner Nicky, du bist ja riesig geworden …« Auch sie fiel ihm um den Hals, und die drei hingen aufeinander, während um sie herum der Wind den Sand aufwirbelte.
Annie war so glücklich, dass es geradezu wehtat. Ihr Sohn war sechs Monate lang fort gewesen, und nun war er zu Thanksgiving heimgekommen, um ihr eine Freude zu machen.
»Na ja, hm, das Geld für den Flug …«, sagte er später, als sie zusammen auf der Couch saßen, »das musste ich mit der Kreditkarte machen …«
»Kein Problem«, erwiderte Annie. In diesem Moment hätte Nicky mit ihrer Kreditkarte ganz Südafrika aushalten können und sie hätte die R echnung irgendwie bezahlt.Wovon?, dachte sie einen Moment lang, aber nur sehr kurz, denn dann legte sie den Kopf an Nickys Schulter und vergaß Kreditkartenabrechnungen und Geld und alles, als sie den vertrauten Duft seiner Haut roch.
»Tut mir leid, dass du aus deinerWohnung rausgekickt wurdest, Oma.«
»Rausgekickt«, wiederholte Betty. »Gefällt mir, dasWort.« Sie grinste.
Nick blickte sich in dem kleinenWohnzimmer um. »Es ist sehr …« Er zögerte. »Es ist auf jeden Fall sehr gemütlich, soviel steht fest.«
Die Stimmung in dem kleinen Haus hatte sich mit Nicks Eintreffen komplett verändert. Das künstliche Kaminfeuer tauchte den Raum in einen warmen gelben Schimmer. DerTee, den Betty eingoss, war heiß und duftete angenehm. Nicks Stimme war jung und lautstark, als er von seinen R eiseabenteuern erzählte und alle zum Lachen brachte.
»Du wusstest, dass er kommen würde, nicht wahr?«, sagte Annie plötzlich zu ihrer Mutter.
»Stimmt«, bestätigte Nick. »Sie hat das Ganze eingefädelt.«
»Wie hast du es nur geschafft, das geheim zu halten, Mom?«
»Ich habe viele Geheimnisse«, antwortete Betty. Und Annie wurde bewusst, dass es wirklich so war; dass ihre Mutter, über die Annie manchmal die Augen verdrehte und die sie mit Nachsicht behandelte; ihre Mutter, die sie bewunderte und verehrte, auch wenn sie sich ihr als jüngerer Mensch überlegen fühlte, diese Frau, die Annie so gut zu kennen glaubte, hatte Geheimnisse, ein Innenleben, von dem Annie nichts wusste.
In dem kitschigen Kamin flackerte das künstliche Gasfeuer, und dieTeetassen klapperten melodiös auf den Untertassen. Draußen krächzte ein Rabe irgendwo am silbrigen Himmel. Miranda betrachtete ihren Neffen – die ausladenden männlichen Gesten, die tiefe Stimme, das laute raue Husten. Er streckte die Beine aus, und sie musste darüber hinwegsteigen, um an ihm vorbeizukommen.
»Ich erinnere mich noch, wie du als kleiner Junge warst«, sagte sie so leise, dass Nick sie kaum hören konnte, und strich ihm gedankenverloren übers Haar. »Ein ganz kleiner Junge.«Tränen traten ihr in die Augen.
»Was ist denn mitTante Miranda los?«, fragte Nick später Annie. »Sie kommt mir ein bisschen gefühlig vor.«
Annie lachte über dasWort und sagte: »Du hast ihr eben gefehlt.« Und Nick, in der unschuldigen Selbstverliebtheit der Jugend, nickte verständnisinnig.
Thanksgiving in dem kleinen Haus geriet zu einem ausgelassenen und fröhlichen Fest. Charlie kam von Chicago angereist, und Annie wurde so von Gefühlen überflutet, dass ihr zum ersten Mal auffiel, in welcher emotionalen Dürre sie in letzter Zeit gelebt hatte. Sie musste sich regelrecht beherrschen, ihre Söhne nicht auf den Schoß zu ziehen. Sie waren anhängliche Jungen, immer schon, aber nun waren sie wirklich erwachsen, hielt sie sich selbst vor Augen. Und sie wartete, bis sie zu ihr kamen, als seien sie junge ungestüme Pferde
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