Die dreizehnte Gabe: Der Dunkle Wald (Die 13. Gabe) (German Edition)
zerknautschte,
rundliche Gesicht einer alten Frau. Sie hatte dunkles zotteliges
Haar, das mit grauen Strähnen durchzogen war, und in das ein
orangenfarbenes Kopftuch eingeflochten war, das ihr weit über
den Rücken fiel, wo es scheinbar mit dem bunt gemusterten Umhang
verschmolz. Sie trug unzählige, verschiedenfarbige Perlenketten.
Offensichtlich eine Zigeunerin. Ihre Augenlieder hingen müde
herunter, wie ihr Kinn, das in mehreren Lagen fast bis zu ihrer Brust
reichte. Überrascht trat Nadia einen großen Schritt
zurück, was der Zigeunerin offensichtlich nicht entgangen war.
Sie
stand auf der anderen Seite des Buffets und musterte Nadia
argwöhnisch. »Sehr unhöflich, du junges Ding! Du
solltest dir Gedanken machen.«
»Wie
bitte?« Nadia blickte sich überrascht. im Zelt um. In
ihrer Nähe befand sich niemand. Mal von dem stark duftenden
Schweinebraten zwischen ihnen abgesehen.
»Wer
unhöflich ist, findet keine Freunde, wer keine Freunde hat, wird
sterben. Folglich wirst du schon bald tot sein«, zischte die
Alte ihr wütend über das Buffet hinweg zu. Ihre Augen
verengten sich zu Angst einflößenden Schlitzen.
»Ich
darf doch sehr bitten«, ermahnte sie die Zigeunerin und hielt
eingeschüchtert nach dem Sicherheitsdienst Ausschau. »Was
wollen Sie von mir?« Ihre Schwester unterhielt sich ein Stück
entfernt mit dem Bürgermeister. Nadia könnte einfach um
Hilfe rufen, und der Sicherheitsdienst, der den Bürgermeister
begleitete, würde sofort auf sie aufmerksam werden.
»Ich
– ich wollte nur fragen, ob Sie meine Hilfe benötigen?
Wenn Sie sich nicht entscheiden können, würde ich Ihnen die
Butternuss empfehlen, eine Spezialität aus Afrika, etwas scharf
aber umso wohlschmeckender«, antwortete eine Männerstimme.
Nadia, die erschrocken herumfuhr, sah nichts mehr von einer
Zigeunerin. Ihr gegenüber stand eine Bedienung, die sie
ungläubig anblickte.
»Was?
Nein. Ich. Butternuss? Ich esse kein Fleisch!«, stieß
Nadia hervor und traute ihren Augen nicht. Im gesamten Zelt war
nichts von der Zigeunerin zu sehen.
»Das
ist nur Fruchtfleisch von einem Kürbis. Geht es Ihnen nicht
gut?«, fragte der Mann ernsthaft
besorgt.
Nadia
nickte außer Atem und ging mit großen Schritten hinaus,
vorbei an ihrer Schwester und dem Bürgermeister. Draußen prallte ihr
die volle Lautstärke des wohltätigen Festes entgegen.
Leute, die sich gegenseitig mehr oder weniger interessante
Geschichten erzählten und Gelächter, wenn der jeweilige
Erzähler an seiner Pointe angekommen war. Nadia lief schnell um
das Zelt herum, um von den vielen Menschen wegzukommen, und lehnte
sich an die rückwärtige Plane. Sie schloss die Augen und
sog gierig die frische Luft ein. Die vielen unterschiedlichen Düfte
der Speisen mussten sie vollkommen aus dem Konzept gebracht haben.
Sie hatte sich diese Zigeunerin lediglich eingebildet. Sie war eine
Meisterin darin, sich etwas einzureden, und hatte die Sache mit der
Zigeunerin schon fast vergessen, als sie wieder zu den anderen Gästen
trat.
Die
restlichen Stunden des Festes verliefen ohne weitere
Schreckenserscheinungen, und
Nadia war dankbar dafür. Als die Abendstunden näherrückten
und die Dämmerung langsam aber sicher alles Sonnenlicht
verschluckte, wurden überall im Park Himmelslaternen entzündet,
die angebunden in mehreren Metern Höhe ihr romantisches Licht
über die Besucher herabstrahlen ließen.
Nadia
stand mit einem Glas Hugo am Rande des Weihers. Ihr Blick wanderte
verträumt über die Wasseroberfläche, die das Licht der
Himmelslaternen wunderschön widerspiegelten.
»Traumhaft,
stimmt ’ s?«,
fragte Jennifer, die von hinten leise an Nadia herantrat. Nadia
lächelte ihrer Schwester kurz zu und wandte ihren Blick wieder
zurück auf das schöne Wasserschauspiel.
»Du
hast dich gar nicht erschreckt? Normal wärst du drei Meter
hochgesprungen, wenn man sich dir von hinten nähert.«
Jennifer stieß ihr Glas leicht gegen das von Nadia. Ein sanfter
melodischer Klang ertönte und die beiden Schwestern prosteten
sich zu.
»Ich
habe dich gehört«, sagte Nadia leise.
»Ich
dachte, ich wäre leise gewesen. Wie viel hast du denn schon von
denen getrunken?« Jennifer lächelte und
zeigte auf ihr halb leeres Glas.
»Zwei
oder drei …«
»Oder
auch mehr?« Ihre Schwester schmunzelte.
»Oder
auch mehr«, bestätigte Nadia grinsend.
»Es
ist ziemlich frisch geworden, vielleicht solltest du ins Hauptzelt
kommen. Dort ist es schön warm.«
»Nein
danke, mir geht es hier
Weitere Kostenlose Bücher