Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
nur ein friedvolles Gefühl der Harmonie, als sie in die Lüfte stieg.
Es war Nacht, und die Laternen waren angezündet. Pahtai schwebte dicht unter der Decke und blickte auf Michanek hinunter, der neben der zerbrechlichen Frau im Bett saß, ihre Hand hielt, ihre fiebertrockene Haut streichelte und Liebesworte flüsterte. Das bin ich, dachte Pahtai, als sie auf die Frau hinunterstarrte.
»Ich liebe dich, ich liebe dich«, flüsterte Michanek. »Bitte, stirb nicht.«
Er sah so müde aus, und Pahtai hätte ihn gern berührt. Er verkörperte alle Sicherheit und Liebe, die sie je gekannt hatte, und sie erinnerte sich an jenen ersten Morgen, als sie in seinem Haus in Resha erwacht war. Sie erinnerte sich an den strahlenden Sonnenschein und den Duft des Jasmins aus dem Garten, und sie wußte, daß sie den bärtigen Mann, der neben ihr saß, eigentlich kennen sollte. Doch als sie in ihren Erinnerungen suchte, konnte sie keine Spur von ihm finden. Es war so peinlich. »Wie fühlst du dich?« hatte er gefragt. Seine Stimme klang vertraut, trug aber nichts dazu bei, ihr Gedächtnis zu öffnen. Sie versuchte zu überlegen, wo sie ihn kennengelernt hatte. Dabei traf sie der zweite Schock – mit erheblich größerer Kraft als der erste.
Sie hatte keine Erinnerung! Nichts. Ihr Gesicht mußte ihr Erschrecken widergespiegelt haben; denn er beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, Pahtai. Du warst krank, sehr krank. Doch jetzt geht es dir wieder besser. Ich weiß, daß du dich nicht an mich erinnerst, aber mit der Zeit wird die Erinnerung wiederkommen.« Er wandte den Kopf und sprach einen anderen Mann an, klein, schlank und dunkelhäutig. »Sieh mal, hier ist Pudri«, sagte Michanek. »Er hat sich große Sorgen um dich gemacht.«
Sie hatte sich aufgesetzt und die Tränen in den Augen des kleinen Mannes gesehen. »Bist du mein Vater?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin dein Diener und dein Freund, Pahtai.«
»Und du, Herr?« sagte sie und wandte sich Michanek zu. »Bist du mein … Bruder?«
Er lächelte. »Nein. Und ich bin auch nicht dein Herr. Du bist eine freie Frau, Pahtai.« Er nahm ihre Hand und küßte die Innenfläche. Sein Bart fühlte sich auf ihrer Haut weich wie Fell an.
»Dann bist du mein Ehemann?«
»Nein. Ich bin lediglich der Mann, der dich liebt. Nimm meine Hand und sag mir, was du fühlst.«
Sie tat es. »Es ist eine gute Hand. Stark. Und warm.«
»Du siehst nichts? Keine … Visionen?«
»Nein. Sollte ich?«
Er schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Nur … du hast phantasiert, als du hohes Fieber hattest. Das zeigt, wieviel besser es dir geht.« Er küßte wieder ihre Hand.
So wie jetzt. Ich liebe dich, dachte sie, plötzlich traurig darüber, daß sie sterben würde. Sie stieg durch die Decke hinaus in die Nacht und blickte zu den Sternen auf. Durch ihre Geistaugen betrachtet, funkelten sie nicht mehr, sondern standen vollkommen und rund in der riesigen Kuppel der Nacht. Die Stadt war friedlich. Selbst die Lagerfeuer des Feindes wirkten nur wie ein schimmerndes Halsband um Resha.
Sie hatte nie alle Geheimnisse ihrer Vergangenheit lösen können. Es schien, daß sie eine Art Prophetin gewesen war und einem Kaufmann namens Kabuchek gehörte. Doch der war lange vor der Belagerung aus der Stadt geflohen. Pahtai erinnerte sich, wie sie zu seinem Haus gegangen war, in der Hoffnung, sein Anblick könne verlorene Erinnerungen zurückbringen. Stattdessen hatte sie einen starken Mann gesehen, in Schwarz gekleidet, mit einer doppelköpfigen Axt. Er sprach mit einem Diener. Instinktiv hatte sie sich in eine Gasse zurückgezogen, mit wild klopfendem Herzen. Er sah aus wie Michanek, nur härter, tödlicher. Unfähig, ihre Augen von ihm zu wenden, regten sich die seltsamsten Gefühle in ihr.
Rasch machte sie kehrt und lief den Weg zurück, den sie gekommen war.
Und seitdem hatte sie nie wieder versucht, ihre Herkunft zu ergründen.
Aber manchmal, wenn sie und Michanek sich liebten – für gewöhnlich im Garten unter den blühenden Bäumen –, dachte sie plötzlich an den Mann mit der Axt, und dann packte sie Furcht und gleichzeitig ein Gefühl des Verrats. Michanek liebte sie, und es schien ihr treulos, daß ein Mann – ein Mann, den sie nicht einmal kannte – sich in solchen Momenten in ihre Gedanken stehlen konnte.
Pahtai schwebte höher. Ihr Geist wurde über das kriegsgeschüttelte Land gezogen, über ausgebrannte Häuser, zerstörte Dörfer und geisterhafte,
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