Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
werden mit der QUELLE. Die Aussicht seines Todes betrübte seine Eltern nicht; denn sie hatten ihn nie als menschliches Wesen, als Fleisch von ihrem Fleisch, als Blut von ihrem Blut betrachtet. Sie sahen in ihm einen Wechselbalg, ein dämonisches Wesen.
Er hatte keine Freunde. Wer wollte schon mit einem Jungen zusammensein, der Gedanken lesen konnte, der in die dunkelsten Ecken einer Seele eindringen und alle ihre Geheimnisse lüften konnte? Selbst im Tempel war er allein, unfähig, an der schlichten Kameradschaft der anderen teilzuhaben, die die gleichen Talente besaßen wie er.
Und jetzt hatte er die Gelegenheit verpaßt, einer jungen Frau zu helfen, ja, ihr Leben zu retten.
Er setzte sich auf und seufzte. Die alte Frau war eine Hexe gewesen; er hatte die Bosheit ihrer Persönlichkeit gespürt. Dennoch hatte die Vision, die sie geschaffen hatte, ihn erregt. Er konnte nicht einmal einem so kleinen Übel widerstehen!
Und dann traf ihn ein Gedanke wie ein Schlag zwischen den Augen. Das Böse! Bosheit und Täuschung wanderten Hand in Hand in der Dunkelheit des Bösen. Vielleicht hatte sie gelogen!
Er legte sich wieder hin und zwang seinen Geist, zu entspannen, ließ ihn noch einmal frei. Er schwebte aus dem Tempel, eilte auf der Suche nach dem Schiff übers Meer und betete, daß er nicht zu spät kam.
Wolken ballten sich im Osten zusammen und verhießen ein Gewitter. Dicht über der Wasseroberfläche schoß Vintar dahin; seine Augen suchten den Horizont ab. Sechzig Kilometer vor der Küste Ventrias sah er die Schiffe – eine Trireme mit einem großen schwarzen Segel und ein schlankes Handelsschiff, das zu entkommen suchte.
Das Handelsschiff wich aus, doch die Trireme pflügte weiter durch die Wellen. Ihr bronzebeschlagener Rammbock traf die Beute mittschiffs, zerschmetterte die Planken und drang bis ins Herz des Schiffes. Bewaffnete Männer kletterten über den Bug der Trireme. Auf dem Achterdeck sah Vintar eine junge Frau in Weiß; sie war mit zwei Männern zusammen – einer groß und dunkelhäutig, der andere klein und zierlich. Das Trio sprang in die Wellen. Haie glitten durch das Wasser auf sie zu.
Vintar flog zu Rowena. Seine Geisthand berührte ihre Schulter, als sie im Wasser hing und sich an ein Stück Holz klammerte. Die beiden Männer schwammen links und rechts von ihr. »Ruhig bleiben, Rowena«, pulste Vintar.
Ein Hai schoß auf das kämpfende Trio zu, und Vintar drang in den Geist des Fisches ein, schmeckte die Öde seiner Nicht-Gedanken, die Kälte seiner Gefühle, den Hunger, der ihn verzehrte. Er fühlte, wie er selbst der Hai wurde, sah die Welt durch schwarze, lidlose Augen, schmeckte seine Umgebung durch einen Geruchssinn, der hundert-, ja, vielleicht tausendmal stärker war als der eines Menschen. Ein weiterer Hai glitt heran. Seine Kiefer klappten auf, als er nach oben stieß.
Mit einem Hieb seiner Schwanzflosse rammte Vintar das Tier, das kehrtmachte und nach seiner Seite schnappte, wobei es seine Rückenflosse nur um Haaresbreite verfehlte.
Dann mischte sich ein Geruch ins Wasser, süß und lockend, der unendliches Vergnügen und ein Ende des Hungers versprach. Beinahe ohne zu überlegen schwamm Vintar dorthin! Er sah und spürte, wie auch die anderen Haie darauf zueilten.
Und dann wußte er, was es war, und seine überschäumende Lust war so rasch gestillt, wie sie geweckt worden war.
Blut. Die Opfer der Piraten wurden den Haien vorgeworfen.
Vintar gab das Meerestier wieder frei und flog zurück zu Rowena und den anderen, die sich noch immer an den Balken klammerten. »Sag deinen Freunden, sie sollen Wasser treten. Ihr müßt von hier wegschwimmen«, erklärte er ihr. Er hörte, wie sie es den beiden anderen sagte, und langsam entfernten die drei sich vom Schlachtfeld.
Vintar schwebte hoch in den Himmel und suchte den Horizont ab. Ein anderes Schiff war gerade noch zu sehen. Es war ein Handelsschiff. Der junge Priester eilte dorthin, sank neben dem Kapitän nieder, der am Ruder stand, drang in seinen Geist ein und schirmte seine Gedanken an Frau, Familie, Piraten und ungünstige Winde ab. Das Schiff war mit zweihundert Ruderern und dreißig Seeleuten bemannt; es brachte Wein aus Lentria zu dem Hafen Virinis in Naashan.
Vintar floß durch den Körper des Kapitäns, um ihn zu kontrollieren. In den Lungen fand er eine kleine Krebsgeschwulst. Rasch neutralisierte sie Vintar, indem er die Heilkräfte des Körpers beschleunigte, um die bösartigen Zellen abzubauen. Er stieg wieder
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