Die Drenai-Saga 7 - Die Augen von Alchazzar
die Augen geschlossen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Daumen ineinander verhakt. Zhusais Großvater nahm diese Haltung oft zum Meditieren ein oder wenn er versuchte, ein Problem zu lösen. Leise setzte sich Zhusai ihm gegenüber.
»Wo bist du jetzt, Talisman?« fragte sie sich. »Wo wandert dein ruheloser Geist jetzt?«
Er war ein kleiner Junge, der niemals eine Stadt gesehen hatte. Er hatte sein junges Leben auf der Steppe verbracht, spielte und rannte zwischen den Zelten des Volkes seines Vaters. Im Alter von fünf Jahren hatte er gelernt, die Ziegen zu versorgen, aus ihrer Milch Käse zu machen, die Häute der geschlachteten Tiere zu dehnen und zu schaben. Mit sieben konnte er ein kleines Pony reiten und mit dem Bogen schießen. Aber mit zwölf wurde er von Männern in heller Rüstung von seinem Vater weggebracht. Sie reisten mit ihm durch die Steppe und weit darüber hinaus bis zu einer steinernen Stadt am Meer.
Es war der erste wirkliche Schock in Talismans Leben gewesen. Sein Vater, der stärkste und tapferste aller Nadirhäuptlinge, hatte schweigend dagesessen, als die rundäugigen Männer in ihrer Rüstung kamen. Dieser Mann, der in hundert Schlachten gekämpft hatte, hatte nicht ein Wort gesagt, hatte seinem Sohn nicht einmal in die Augen gesehen. Nur Nosta Khan war zu ihm gekommen und hatte seine knochige Hand auf Talismans Schulter gelegt. »Du mußt mit ihnen gehen, Okai. Die Sicherheit des Stammes hängt davon ab.«
»Wieso? Wir sind die Wolfsschädel, stärker als alle anderen.«
»Weil dein Vater es befiehlt.«
Sie hatten Okai auf den Rücken eines großen Pferdes gehoben, und die lange Reise begann. Nicht allen Nadirkindern wurde die Sprache der Rundaugen beigebracht, aber Talisman hatte ein gutes Ohr für Sprachen, und Nosta Khan hatte viele Monate damit verbracht, ihn die Feinheiten zu lehren. Daher konnte er die glänzenden Soldaten verstehen. Sie machten Scherze über die Kinder, die sie einsammelten, und nannten sie Mistwelpen. Sonst waren sie nicht unfreundlich zu ihren Gefangenen. Vierundzwanzig Tage lang reisten sie, bis sie schließlich zu einem Alptraum kamen, den die Nadirkinder mit Furcht und Entsetzen betrachteten. Alles war aus Stein und bedeckte die Erde, reichte bis in den Himmel hinauf, riesige Mauern und hohe Häuser, enge Gassen und eine Masse von Menschen, die ständig in Bewegung war und sich wie eine gewaltige Schlange durch die Marktplätze, Straßen, Gassen und Wege wand.
Siebzehn junge Nadir, alles Häuptlingssöhne, wurden in jenem Spätsommer in die Stadt Bodacas gebracht.
Talisman-Okai erinnerte sich an den Ritt durch die Straßen der Stadt, an die Kinder, die auf die Nadir zeigten und dann schrien und kreischten und mit ihren Fingern Gesten machten. Auch Erwachsene blieben stehen und guckten mit finsteren Mienen. Vor einem ummauerten Gelände am Rand der Stadt hielt die Reiterschar an, und die Doppeltore aus Bronze und Eisen wurden aufgestoßen. Für Okai war es, als würde er in den Schlund eines großen, dunklen Untiers reiten, und Angst stieg ihm bitter wie Galle die Kehle empor.
Hinter den Toren befand sich ein flaches, gepflastertes Übungsgelände, und Okai sah zu, wie junge Männer und ältere Knaben mit Schwert und Schild, Speer und Bogen übten. Sie waren alle gleich, in dunkelrote Tuniken, dunkle Beinkleider und knielange Stiefel aus glänzendem braunem Leder, gekleidet. Alle Übungen endeten abrupt, als die jungen Nadir mit ihrer Eskorte eintrafen. Ein junger Mann mit blondem Haar trat vor, das Übungsschwert noch in der Hand. »Wie ich sehe, sollen wir jetzt echte Ziele für unsere Pfeile bekommen«, sagte er zu seinen Kameraden, die laut lachten.
Man befahl den Nadir abzusteigen, dann wurden sie in ein sechsstöckiges Gebäude gebracht und eine anscheinend endlos lange Wendeltreppe zum fünften Stock hinaufgeführt. Durch einen langen, beklemmend engen Flur ging es zu einem großen Raum, in dem hinter einem polierten Schreibtisch aus Eichenholz ein untersetzter Krieger mit gegabeltem Bart saß. Seine Augen waren leuchtend blau, sein Mund breit mit vollen Lippen. Eine Narbe verlief rechts von seiner Nase im Bogen zum Kinn. Auch seine Unterarme zeigten Narben vom Nahkampf. Er stand auf, als sie eintraten.
»Stellt euch in zwei Reihen auf«, befahl er. Seine Stimme war tief und kalt. Die Jünglinge stellten sich auf. Okai, als einer der Kleinsten, stand vorne. »Ihr seid hier als Janitscharen. Ihr versteht nicht, was das bedeutet, aber
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