Die dritte Jungfrau
ist. Er haßt Sie.«
Adamsberg kurbelte die Scheibe herunter, streckte seinen Arm nach draußen und öffnete die Hand, um den Regen zu spüren.
»Das macht Sie traurig«, sagte Danglard.
»Ein wenig, ja.«
»Aber Sie wissen, daß wir recht haben.«
»Als Robert mich wegen des zweiten Hirschs anrief, war ich müde, es war mir egal. In dem Moment war es Veyrenc, der mir vorschlug, mich dorthin zu fahren. Und auf dem Friedhof von Opportune war’s wieder Veyrenc, der mir Pascalines Grab zeigte, mit dem kurzen Gras drauf. Er war’s, der mich gedrängt hat, es öffnen zu lassen, genauso wie er mich in Montrouge ermutigt hatte, weiterzumachen. Und er hat Brézillon bewogen, nachzugeben, damit ich den Fall behielt. So daß er ihn weiterverfolgen konnte, während ich mich darin verstrickte.«
»Und er hat Ihnen Camille weggenommen«, sagte Danglard ganz leise. »Eine gewaltige Rache, die eines Racineschen Helden absolut würdig ist.«
»Woher wissen Sie das, Danglard?« fragte Adamsberg und ballte die Faust im Regen.
»Als ich die Abhöranlage aus Froissys Schrank nahm, mußte ich eine Aufzeichnung abspielen, um die Tonspur einzustellen. Ich habe Ihnen oft genug gesagt, wie er ist. Intelligent, mächtig, gefährlich.«
»Ich mochte ihn trotzdem.«
»Hocken wir deshalb untätig in Clancy, in diesem parkenden Auto? Anstatt nach Paris zu fahren?«
»Nein, Capitaine. Einerseits, weil wir keinen Sachbeweis haben. Nach richterlichem Beschluß wäre er vierundzwanzig Stunden später wieder auf freiem Fuß. Veyrenc würde vom Krieg zwischen den beiden Tälern erzählen und sagen, daß ich aus privaten Gründen versessen darauf sei, ihn zu zerstören. Damit nie einer erführe, wer der fünfte Kerl unter dem Baum war.«
»Gewiß«, gab Danglard zu. »Damit hat er Sie in der Hand.«
»Andererseits, weil ich immer noch nicht ganz verstanden habe, was Retancourt zu mir gesagt hat.«
»Und ich frage mich noch immer, wie Die Kugel diese achtunddreißig Kilometer bewältigen konnte«, sagte Danglard, nachdenklich geworden angesichts dieser neuen Frage ohne Antwort.
»Die Liebe und ihre Wunder, Danglard. Es ist auch gut möglich, daß Die Kugel viel von Violette gelernt hat. Jedes noch so kleine Körnchen Kraft sparen, um sie irgendwann für einen einzigen großen Auftrag einsetzen zu können.«
»Retancourt war mit Veyrenc in einem Team. Deshalb auch hat sie vor uns dieses verdammte Zeug kapiert, das wir nicht begriffen hatten. Er wußte, daß sie Romain regelmäßig besuchte. Er hat am Eingang auf sie gewartet. Sie fand ihn schön, immerhin ist sie ihm gefolgt. Das einzige Mal in ihrem Leben, daß es Violette an Scharfsinn gemangelt hat.«
»Die Liebe und ihre Verhängnisse, Danglard.«
»Sogar Violette kann sich darin verirren. Wegen eines Lächelns, einer klangvollen Stimme.«
»Ich möchte wissen, was sie mir sagen wollte«, beharrte Adamsberg und zog seinen nassen Arm ins Auto zurück.
»Was würde sie Ihrer Meinung nach versuchen, Capitaine, sobald sie drei Wörter formulieren könnte?«
»Mit Ihnen reden.«
»Um mir was zu sagen?«
»Die Wahrheit. Und genau das hat sie getan. Sie hat von den Schuhen geredet, sie hat gesagt, daß wir uns nicht darum scheren sollen. Und damit ausdrücken wollen, daß es nicht die Krankenschwester war.«
»Das war nicht das erste, was sie sagte, Danglard. Es war das zweite.«
»Aber vorher hat sie nichts Verständliches geäußert. Sie hat nur ihren Corneille zitiert.«
»Wer spricht diese Verse eigentlich?«
»Die Camille in der Tragödie Horatius. «
»Sehen Sie, Danglard, das ist ein Beweis. Retancourt wiederholte durchaus nicht ihren Schulstoff, sie ließ mir durch diese Camille eine Botschaft zukommen. Aber ich verstehe die Botschaft nicht.«
»Weil sie auch gar nicht eindeutig sein kann. Retancourt befand sich noch in ihren Traumphantasien. Man muß ihren Satz dekodieren, so wie man Träume entschlüsselt.«
Danglard dachte eine Weile nach.
»Camille ist umgeben von verfeindeten Brüdern«, sagte er, »den Horatiern auf der einen Seite und den Kuriatiern auf der anderen. Sie liebt einen von ihnen, der den anderen töten will. Gleiche Situation bei der echten Camille. Verfeindete Vettern, Sie auf der einen, Veyrenc auf der anderen Seite. Aber Veyrenc repräsentiert Racine. Und wer war Racines großer Rivale, sein Erzfeind? Corneille.«
»Wirklich?« fragte Adamsberg.
»Wirklich. Racines Erfolg brachte den Thron des alten Tragödiendichters ins Wanken. Sie haßten
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