Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
einander. Retancourt wählt Corneille und verweist damit auf seinen Feind: Racine. Racine, also Veyrenc. Darum hat sie auch in Versen gesprochen, damit Sie sofort an Veyrenc denken.«
    »Ich habe tatsächlich an ihn gedacht. Ich habe mich gefragt, ob sie von ihm träumt oder ob er sie vielleicht angesteckt hat.«
    Adamsberg kurbelte die Scheibe hoch und schnallte sich an.
    »Lassen Sie mich zuerst allein zu ihm gehen«, sagte er und schaltete die Zündung ein.

59
    Veyrenc, schon auf dem Wege der Besserung, saß in Shorts auf seinem Bett, im Rücken zwei Kopfkissen, ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt. Er sah zu, wie Adamsberg am Fußende mit verschränkten Armen hin und her lief.
    »Fällt es Ihnen schwer, zu stehen?« fragte Adamsberg.
    »Es zieht ein wenig, es brennt, weiter nichts.«
    »Können Sie gehen, Auto fahren?«
    »Ich glaube schon.«
    »Gut.«
    »So sprecht, Seigneur, ich seh’s, ein Schimmer im Gesicht verrät, daß Euch was drängt, etwas Geheimes, nicht?«
    »Das stimmt, Veyrenc. Der Mörder, der Élisabeth, Pascaline, Diala, La Paille und den Brigadier Grimal kaltgemacht und die Gräber aufgebrochen hat und der auch beinahe Retancourt vernichtet hätte, der an drei Hirschen und einem Kater herumoperiert und das Reliquiengefäß geplündert hat, ist keine Frau. Es ist ein Mann.«
    »Sagen Sie das rein intuitiv? Oder gibt es was Neues?«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Neue Beweise.«
    »Noch nicht. Aber ich weiß, daß dieser Mann genug über den Todesengel wußte, um uns auf seine Fährte zu locken, um die Ermittlung in eine Richtung zu lenken, in der sie scheitern mußte, während er seelenruhig anderswo seinem Geschäft nachging.«
    Veyrenc kniff die Augen zusammen und streckte die Hand nach seiner Zigarettenschachtel aus.
    »Die Ermittlung scheiterte«, fuhr Adamsberg fort, »die Frauen starben, und ich würde ebenfalls untergehen. Das war ein passabler Racheakt für den Mörder. Darf ich?« fügte er hinzu und zeigte auf die Zigarettenschachtel.
    Veyrenc reichte ihm die Schachtel und zündete die beiden Zigaretten an. Adamsberg beobachtete seine Handbewegung. Kein Zittern, keinerlei Aufregung.
    »Und dieser Mann«, sagte Adamsberg, »ist jemand aus der Brigade.«
    Veyrenc fuhr sich durch sein Tigerhaar und blies den Rauch aus, wobei er Adamsberg überrascht anblickte.
    »Aber ich habe nichts Greifbares gegen ihn in der Hand. Ich bin machtlos. Was sagen Sie dazu, Veyrenc?«
    Der Lieutenant ließ die Asche in seine hohle Hand fallen, Adamsberg hielt ihm einen Aschenbecher hin.
    »Wir suchten ferne ihn, weit hinterm letzten Meer, die Schiffe kehrten um, die Beutenetze leer, längst saß er unter uns, und wir war’n Narren, Herr!«
    »Ja, was für ein Sieg, nicht wahr? Ein intelligenter Mann, der im Alleingang siebenundzwanzig Dummköpfe an der Nase herumführt.«
    »Sie denken doch nicht etwa an Noël? Ich kenne ihn zwar kaum, aber das bezweifle ich. Streitsüchtig ist er, aber kein Täter.«
    Adamsberg schüttelte den Kopf.
    »An wen denken Sie dann?«
    »Ich denke an das, was Retancourt gesagt hat, als sie aufgewacht ist.«
    »Endlich«, sagte Veyrenc lächelnd. »Sie meinen doch die Verse aus dem Horatius? «
    »Woher wissen Sie, daß sie die gesprochen hat?«
    »Weil ich mich oft nach ihr erkundigt habe. Lavoisier hat’s mir erzählt.«
    »Für einen Neuen sind Sie sehr aufmerksam.«
    »Retancourt ist meine Teamkollegin.«
    »Ich glaube, Retancourt hat alles daran gesetzt, mir den Mörder zu nennen, mit dem bißchen Kraft, das sie hatte.«
    »Zweifeltet Ihr daran, Seigneur, Daß Ihr so spät erst ihrer Worte Wert erkennt?
    Den Sinn nicht seht und dann im Irrtum Euch verrennt?«
    »Und Sie, haben Sie ihn denn erkannt, Veyrenc? Diesen Sinn?«
    »Nein«, sagte Veyrenc und wandte den Blick ab, um seine Asche herunterfallen zu lassen. »Was werden Sie jetzt tun, Kommissar?«
    »Etwas ziemlich Banales. Ich werde auf den Mörder warten, dort, wo er hinkommen wird. Die Dinge überstürzen sich, er weiß, daß Retancourt reden wird. Er hat wenig Zeit, eine Woche oder weniger, bei der Geschwindigkeit, mit der sie sich erholt. Er muß seine Mischung unbedingt fertigbekommen, bevor man ihm die Möglichkeit dazu nimmt. Also werden wir Francine als Lockvogel einsetzen und sie scheinbar ungeschützt herumlaufen lassen.«
    »Der Klassiker«, meinte Veyrenc.
    »Ein Sprint hat nie etwas Originelles, Lieutenant. Zwei Kerle rennen nebeneinander auf einer Bahn, und der Schnellere gewinnt. Das ist alles.

Weitere Kostenlose Bücher