Die dritte Jungfrau
Fadenzähler ans Auge gepreßt, die fünf bis sechs Zentimeter lange blaue Spur auf der Terrakottafliese. Besser sichtbar war ein etwas kräftigeres Quentchen Schuhcreme in einer Fuge. Eine andere, kleinere Spur war auf der danebenliegenden Fliese erkennbar. Schweigend und mit finsterem Gesicht kehrte Adamsberg ins Eßzimmer zurück. Er öffnete Schränke und Anrichten, ging in die Küche und fand auf einer Ablage eine Dose Schuhcreme und einen alten Lappen.
»Estalère«, sagte er, »nehmen Sie das hier. Gehen Sie zur Nordmauer, zu genau der Stelle, wo sie rübergestiegen ist. Dort reiben Sie Ihre Schuhsohlen mit dieser Creme ein. Und kommen wieder hierher zurück.«
»Aber die Schuhcreme hier ist braun.«
»Das ist vollkommen egal, Estalère. Los, gehen Sie.«
Fünf Minuten später kam Estalère zur Küchentür herein.
»Stopp, Brigadier. Ziehen Sie Ihre Schuhe aus und geben Sie sie mir.«
Adamsberg betrachtete die Sohlen im Licht des kleinen Fensters, fuhr dann mit der Hand in einen der Schuhe, drückte ihn auf den Erdboden und drehte ihn dabei. Er betrachtete die Spur mit dem Fadenzähler, wiederholte den Vorgang mit dem anderen Schuh und richtete sich wieder auf.
»Nichts«, sagte er, »durch das feuchte Gras ist alles weggewischt. Ein Rest von Creme bleibt noch auf der Sohle, aber nicht genug, um auf den Kachelboden geschmiert zu werden. Sie können Ihre Schuhe wieder anziehen, Estalère.«
Adamsberg setzte sich wieder ins Eßzimmer, umgeben von seinen drei Mitarbeitern und Ariane. Seine Finger strichen über das Wachstuch, sie schienen das Unsichtbare zusammenfügen zu wollen.
»Das haut nicht hin«, sagte er. »Es ist zuviel.«
»Zuviel Schuhcreme?« fragte Ariane. »Meinst du das?«
»Ja. Es ist zuviel und zudem unmöglich. Und doch ist es ihre Schuhcreme. Aber sie kommt nicht von ihren Sohlen.«
»Glauben Sie, sie signiert?« fragte Mordent mit gekrauster Stirn. »Wie mit der Spritze? Indem sie absichtlich Schuhcreme verteilt? Um ihre Spur zu hinterlassen?«
»Um uns auf eine Fährte zu locken. Uns in eine bestimmte Richtung zu lenken.«
»Bis wir in die Irre gehen«, sagte die Gerichtsmedizinerin mit halbgeschlossenen Lidern.
»Genau, Ariane. Wie es die Strandräuber taten, wenn sie falsche Leuchtfeuer anzündeten, um die Schiffe von ihrer Route abzubringen, damit sie an den Felsen zerschellten. Es ist ein falsches Leuchtfeuer, das uns in die Ferne lockt.«
»Ein Licht, das uns stetig zu der alten Krankenschwester führt«, sagte Ariane.
»Ja. Und genau das wollte Retancourt sagen: ›Sag ihm, es geht uns nichts an.‹ Die blauen Schuhe. Sie gehen uns nichts an.«
»Wie steht es um sie?« fragte Ariane.
»Sie erholt sich mit Höchstgeschwindigkeit. Jedenfalls schnell genug, um uns zu sagen: ›Es geht uns nichts an.‹«
»Die Schuhe und alles übrige auch«, sagte Ariane.
»Ja, die Einstichspuren, das Skalpell, die Schuhcreme. Ein hübscher Ausweis, aber ein gefälschter. Ein echter Köder. Wochenlang treibt man nun schon seinen Spaß mit uns wie mit Hampelmännern. Und wir, und ich, sind wie die Schwachköpfe, wie ein einziger Mann auf das Licht zugerannt, das man vor uns schwenkte.«
Ariane verschränkte die Arme, senkte das Kinn. Sie hatte sich kaum Zeit fürs Schminken genommen, und Adamsberg fand sie so noch schöner.
»Es ist meine Schuld«, sagte sie. »Ich habe dir gesagt, es sei vielleicht eine Dissoziierte.«
»Aber ich war’s, der auf die Krankenschwester gekommen ist.«
»Ich habe mich verrannt«, beharrte Ariane. »Ich habe sekundäre Faktoren hinzugefügt, psychologische und mentale.«
»Weil der Mörder die psychologischen und mentalen Faktoren von Frauen bestens kennt. Weil alles so angelegt war, Ariane, daß wir in den Irrtum hineinrennen mußten. Und wenn der Mörder alles dafür getan hat, um uns auf eine Frau zu bringen, dann weil er ein Mann ist. Ein Mann, der Claire Langevins Flucht genutzt hat, um sie uns in den Weg zu werfen. Ein Mann, der wußte, daß ich auf die Möglichkeit mit der alten Krankenschwester anspringen würde. Aber sie ist es nicht. Deshalb nämlich entsprechen diese Morde auch in keiner Weise der Psychologie des Todesengels. Du hattest es gesagt, Ariane, an dem Abend nach Montrouge. Es hat gar keinen zweiten Krater auf der anderen Seite des Vulkans gegeben. Es ist ein gänzlich anderer Vulkan.«
»Dann ist es aber sehr gut gemacht«, sagte die Gerichtsmedizinerin seufzend. »Dialas und La Pailles Verletzungen weisen eindeutig auf einen
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