Die dritte Sünde (German Edition)
Kind, ein Knabe, zur Welt gekommen war, aber der Vater kam doch wenigstens einmal im Monat. Oft hatte er Billie bei sich. Billie zu sehen, bereitete ihr jedes Mal Qualen. Sein Arm war verkümmert und schwach geblieben und hing nutzlos und dünn an seiner Seite. Seine kindliche Unbeschwertheit hatte er vielleicht auch deshalb, wie es schien, verloren. Sein Gesicht hatte einen seltsam verschlossenen Ausdruck angenommen, der Cathy in der Seele wehtat. Nie hatte er auch nur versucht, mit ihr zu sprechen, wenn er sie auch bisweilen mit seinen blauen Augen gemustert hatte. Und auch der Vater hatte nie ein Wort an sie gerichtet, obwohl sie es in der ersten Zeit so eingerichtet hatte, dass sie sich in der Nähe aufhielt, wenn die beiden Whitefell aufsuchten. Schließlich aber hatte sie es aufgegeben und beobachtete die beiden nur noch vom Fenster aus.
Doch nun war es Zeit, wieder zu Isobel hinunterzugehen. Isobel sollte, so hatte Miss Hunter angeordnet, täglich nach dem Lunch etwas ruhen um ihrer Schönheit willen, die viel Schlaf brauche. Cathy gönnte es ihr von Herzen, war dies doch die Zeit des Tages, die sie für sich selbst nutzen konnte, ohne ständig den Wünschen Isobels entsprechen zu müssen und dabei deren jeweilige Stimmungslage zu erahnen. Vielleicht trieben auch Miss Hunter ähnliche Überlegungen.
Sie warf einen Blick in den trübe gewordenen Spiegel, den sie unter den Gerätschaften auf dem Dachboden gefunden hatte. Zusammen mit einigem anderen Gerümpel hatte sie sich damit ihr kleines privates Reich eingerichtet. Mit siebzehneinhalb war sie jetzt schon eine voll entwickelte Frau, obwohl das unscheinbare graue und schlicht gehaltene Kleid mit den selbstgehäkelten Spitzensäumen an den Aufschlägen und am V-förmig geschnittenen Kragen, das ihr Miss Hunter als angemessene Kleidung zugestanden hatte, ihre weiblichen Rundungen eher versteckte als hervorhob. Sie besaß eine geringe, aber ausreichende Anzahl dieser einheitlich grauen Gewänder, was sie einerseits von den Dienstboten abhob, andererseits aber auch deutlich ihren niedrigen Stand unterstrich. Lediglich ihr dichtes Haar, das sie in einem schmucklosen Zopf zu tragen hatte und das jetzt, da sie eine junge Frau geworden war, deutlich rötlicher leuchtete als zu ihrer Kinderzeit, war ein farblicher Kontrast zu dem immerwährenden Grau, das in den vergangenen Jahren fast zu ihrer zweiten Haut geworden war. Da sie wenig an die frische Luft kam, waren ihre Wangen von einer porzellanenen Blässe, die die dunkelblauen Augen unter den geschwungenen Brauen größer und noch dunkler erscheinen ließ. Insgesamt kein besonders atemberaubender Anblick, dachte sie – anders als die sorgfältig gepflegte und auch unbestreitbar vorhandene Schönheit Isobels, die auch von allen Bewohnern Whitefells ständig und mit besonderem Nachdruck der jungen Herrin gegenüber gerühmt wurde. Kein Wunder, dass sich Isobel de Burgh nicht wenig darauf einbildete.
Cathy seufzte und strich einige staubige Spinnweben, die sie in ihrem geheimen Tagebuchversteck versehentlich eingefangen hatte, von ihrem Gewand und machte sich dann auf, um Isobel, wie jeden Tag, Gesellschaft zu leisten.
Kapitel 11
Isobel schlief keineswegs, sondern hatte – wie fast immer – ein Buch in die Mittagsruhe mitgenommen. Sie liebte es, heimlich Romane zu lesen, besonders wenn darin von zarten Jungfrauen und schlimmen Gefahren berichtet wurde. Bücher, die Miss Hunter keineswegs billigte, aber geflissentlich übersah. Cathy konnte diesen Schauergeschichten nicht allzu viel abgewinnen, obwohl Isobel sie immer wieder dazu drängte, sie zu lesen, was sie dann pflichtschuldigst auch tat. Aber die geschilderten Begebenheiten waren ihr zu weit hergeholt und fanden in der Regel nach immer demselben Muster statt, das sie, nachdem sie dieses erkannt hatte, als wenig ansprechend empfand. Stattdessen schätzte Cathy die Reisebeschreibungen, die Miss Hunter für den Erdkundeunterricht zu nutzen pflegte. Die fernen Länder faszinierten sie außerordentlich. Auch Bombay, die verheißungsvolle Stadt im fernen Indien, war ihr nun längst ein Begriff. Da sich das britische Empire unaufhaltsam ausdehnte in viele ferne Länder, war es notwendig, dass die Kunde davon Bestandteil des Unterrichts war, den Cathy begierig aufsog.
»Ach, Cathy, mein Buch ist so aufregend. Denk dir nur, die Heldin meines Buches wurde gerade aus einer Kutsche entführt und muss nun einem Räuber zu Willen sein. Stell dir vor, er hat ihr die
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