Die dritte Todsuende
Person.«
Eine Sekunde oder zwei herrschte Schweigen. Dann fragte der Mann: »Könnten Sie mir Ihren Namen und…«
Sie hängte auf. Sie lächelte.
Sie versuchte sich so genau wie möglich an alles zu erinnern, was sie gestern abend nach dem Abschied von Ernest Mittle vor ihrer Haustür gemacht hatte. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf die möglichen Risiken.
Als sie aus dem Haus gegangen war, hatte der Portier ihr kaum einen Blick zugeworfen. Auch der Taxifahrer würde sich nicht an die Frau erinnern, die er zur Ecke 72th Street und Central Park West gefahren hatte. Und selbst wenn er es tat, was hatte das mit einem Mord um Mitternacht im Hotel Pierce zu tun?
Niemand in der Damentoilette des Filmore hatte gesehen, wie sie die Perücke aufgesetzt und Make-up aufgelegt hatte. Sie war durch den Hoteleingang verschwunden; der Barkeeper konnte die Verwandlung also nicht bemerkt haben. Der Fahrer des Taxis, von dem sie sich bis kurz vor das Pierce hatte bringen lassen, hatte sie kaum angeblickt. Sie hatten auch nicht miteinander geredet.
Die Cocktail-Lounge, El Khatar, war überfüllt gewesen, und eine Menge Frauen hatten weit auffälligere Kleider getragen. Außer ihr und Fred hatte noch ein Paar den vollen Aufzug im dreißigsten Stock verlassen, aber es war, völlig ins Gespräch vertieft, in die andere Richtung gegangen. Zoe Kohler glaubte nicht, daß sie und Fred jemandem aufgefallen waren.
Im Zimmer hatte sie genau darauf geachtet, was sie berührte. Nachdem er fort war (sie benutzte das Wort »tot« nicht gern), hatte sie überrascht festgestellt, daß sie nur bis zu den Ellbogen mit Blut bedeckt war.
Dann war sie ins Badezimmer gegangen, um die purpurnen Flecken abzuwaschen. Immer wieder hatte sie sich abgespült, das Wasser so heiß, wie sie es ertragen konnte. Und dann hatte sie das heiße Wasser weiter laufen lassen, um das Becken zu säubern, während sie sich Arme und Hände abtrocknete. Sie war ins Schlafzimmer zurückgegangen, wobei sie es vermieden hatte, einen Blick zum Bett hinüberzuwerfen.
Dann, wieder im Badezimmer, hatte sie das Wasser abgestellt und das feuchte Handtuch dazu benutzt, die Armaturen, die Türklinke und später die weiße Plastikkarte, die Fred auf die Kommode neben der Zimmertür geworfen hatte, abzuwischen.
Bevor sie ging, hatte sie die Perücke abgenommen und sich mit dem Handtuch das Make-up vom Gesicht gewischt. Perücke und Handtuch waren in ihrer Schultertasche verschwunden. Sie hatte einen letzten Blick ins Zimmer geworfen und beschlossen, daß es nichts mehr gab, was sie noch tun konnte.
Der abwärtsfahrende Aufzug war überfüllt, und niemand hatte sie angeblickt: eine blasse Frau mit mausfarbenem Haar, die einen schlecht sitzenden, bis zum Kinn zugeknöpften Trenchcoat trug. Natürlich blickte niemand sie an; sie war wieder Zoe Kohler, die unsichtbare Frau.
Sie war zur Fifth Avenue gegangen und hatte ein Taxi zur Ecke 38th Street und Fifth genommen. Von dieser Ecke war sie zu ihrem Appartementhaus gegangen. Sie hatte nicht die leiseste Angst so allein auf der Straße gehabt. Wäre ihr Leben in jenem Moment zu Ende gewesen, es hätte sich dennoch gelohnt.
Nachdem sie sich in ihrer Wohnung eingeschlossen hatte, war sie (zum drittenmal an diesem Tag) unter die Dusche gegangen. Sie hatte all ihre geheimen Kleider in ihren Verstecken untergebracht. Das feuchte Handtuch war in die Plastiktüte im Abfalleimer gewandert und von dort aus am nächsten Morgen in die Verbrennungsanlage.
Seit Stunden hatte sie schon nicht mehr auf ihre Menstruationskrämpfe geachtet. Nach ihrer Rückkehr war sie sich der wachsenden Schmerzen in ihrem Bauch jedoch wieder bewußt geworden. Sie hatte eine Midol, zwei Anazin, eine Vitamin-B-Kapsel, eine Vitamin-C-Tablette geschluckt und einen halben Becher Blaubeer-Joghurt gegessen. Sie hatte geschlafen wie ein Baby.
Während des folgenden Monats hatte Zoe Kohler das Gefühl, daß ihr geordnetes Leben in durcheinanderwirbelnde Stücke zerbrach. Die Zeit schien schneller und schneller zu vergehen. Mehr und mehr drang die Vergangenheit in die Gegenwart ein. Sie stellte fest, daß sie mehr als bisher über ihre Ehe, ihren Mann, ihre Mutter, ihren Vater, ihre Kindheit nachdachte. Sie verbrachte einen ganzen Abend damit, sich die Namen von Freunden in Erinnerung zu rufen, die auf der Party anläßlich ihres dreizehnten Geburtstags gewesen waren.
Die Party war eine Katastrophe gewesen, zum Teil, weil einige Gäste nicht gekommen waren und
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