Die dritte Weissagung
traf sie wie ein Keulenhieb. Aber beinahe noch mehr erschütterte sie das, was vor Igor weiter in der Luft schwebte, auch nachdem die Hände, die es gehalten hatten, zu flockiger Asche zerfallen waren.
Der Lilienkelch!
Das verschollen geglaubte Unheiligtum ihrer Rasse!
Und noch während Irina staunend und entsetzt auf das schwebende Mysterium starrte, glitt es von der Stelle weg, wo Igor dahingerafft worden war, und begab sich in die zwanghaft hochgereckten Hände des nächsten Sippenangehörigen.
Ivanova ergriff das purpurleuchtende Gefäß und setzte es an seine Lippen.
Trank .
... und starb.
*
Rasputin klatschte verzückt in die Hände. Sein Blick gloste noch irrer als sonst. Irina brauchte ungewöhnlich lange, bis sie begriff, daß der Mann, unter dessen Händen sie jedesmal dahinschmolz, denjenigen Beifall zollte, die der Kelch in den Tod riß.
Ihr Magen schien sich in einen Klumpen Blei zu verwandeln. Mit geballten Fäusten schritt sie auf den Thron zu, aus dessen Schatten nun derjenige trat, den ihre Augen bislang vergeblich gesucht hatten.
»Schon ausgeschlafen?« Landru hatte Irina sofort bemerkt.
»Du - Teufel! Wie konntest du mein Vertrauen so mißbrauchen?«
Lächelnd wartete er, bis sie den Kreis ihrer bereits drastisch reduzierten Familie erreicht hatte.
Eine neuerliche Schockwelle ließ sie wanken.
»Ismail .«
Irina wirbelte herum und sah gerade noch den Ausdruck von Qual über die Züge ihres Bruders wuchern, bevor er wie eine amorphe Wolke in sich zusammensank.
Als sie lostaumeln wollte, um sich zwischen den lilienförmigen Kelch und Ivan zu stellen, der dem magischen Gefäß am nächsten stand und ihm wohl als nächster zum Opfer fallen würde, traf sie ein Bannstrahl aus züngelnder Energie, den Landru gegen sie schleuderte.
Irina hatte das Gefühl, auf einem Scheiterhaufen inmitten leckender Flammen zu stehen. Sie sah sich schon als Ebenbild Annas, verkohlt bis auf die tiefsten Schichten ihrer Haut.
Da erlosch die Pein.
»Hüte dich, dich mir entgegenzustellen«, hörte sie Landrus Stimme, die hohl klang, als käme sie aus einem tiefen Schacht. »Ich wollte dich schonen. Aber wenn du mich provozierst .«
»Was tust du?« Ihre Stimme überschlug sich.
»Ich richte.«
»Du ... richtest...?«
»Diese Sippe ist eine Gefahr. Ein Geschwür, das herausgeschnitten werden muß aus dem Körper unseres Volkes, bevor es ihn vergiftet.«
»Du mußt den Verstand verloren haben!«
»>Ich?« Landrus lachte bitter auf. »Was ich tue, geschieht zum Wohl der Welt. Wir leben in einer Abhängigkeit von den Schwachen, die wir regieren. Wir können sie nicht ausmerzen wie Ungeziefer!«
»Ilja sagte -«
»Ilja wird nie wieder etwas sagen. Ilja trägt die Verantwortung, daß es soweit kommen konnte. Hätte er Rußland aus dem Krieg herausgehalten, wäre es ein Schlachten wie unzählige zuvor geblieben. Zwei Länder, die sich bekriegen. Vielleicht auch drei. Aber seine >Politik< hat ein Mordbrennen von nie gekanntem Ausmaß ausge-löst. Er hat sich schuldig gemacht. Kein Kodex, kein GESETZ wird verhindern, daß ich ihn dafür zur Verantwortung ziehe. Und ihr als seine >Kinder< hättet ihm Einhalt gebieten müssen. Das habt ihr nicht getan. Ihr habt zugeschaut, wie die Welt in Trümmer geht.«
»Du willst . uns alle töten?«
»Ich will und werde. Alle bis auf dich.«
»Bis auf mich? Wie kannst du glauben, ich könnte zuschauen und danach weiterleben wollen, als wäre -«
»Ist es dir lieber, wenn ich auch dir das Gift des Kelchs einflöße?«
Irina hatte das Gefühl, von einer Schlinge, die sich immer fester zusammenzog, erstickt zu werden. Ihr Blick irrte zu Ilja, der über dem Geschehen thronte, als ginge ihn das alles nichts an - nicht mehr. Das Tuch lag wie eine Kappe um seinen Schädel. Es deckte ihn zu. Es machte ihn blind. Aber war er auch taub? Hörte er nicht, was dieser Wahnsinnige ihm vorwarf? Warum reagierte er nicht? Warum bettelte er nicht um das Leben - seines und das seiner Sippe?
»Wer bist du?« fragte Irina. »Wie kommt der Kelch in deine Hände? Bist du etwa ...?«
Das Wort weigerte sich, über ihre Lippen zu kommen.
»Der Hüter?« Landru sprach es aus. Es klang, als spräche er nicht über eine mythologische Gestalt, sondern über etwas Verdammtes, Fluchbeladenes. Er schüttelte den Kopf. »Den Hüter gibt es nicht mehr. Den Hüter wird es so lange nicht geben, wie der Kelch verschollen ist!«
»Aber -«
»Das hier?« Er streckte die Hand aus und wies auf das
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