Die dritte Weissagung
Gefäß, hinter dem in diesem Augenblick Ivan zerfiel.
Irina stöhnte.
Dann sah sie, wie der Kelch flackernd vor ihren Augen verschwand. Sekundenlang.
Bis er wieder aus dem Nichts heraus entstand.
»Ein magisches Replikat«, kommentierte Landru. »Nur eine perfekte Nachbildung, geschaffen aus meiner Erinnerung. Niemand kannte das Original besser als ich.«
»Aber dann bist du doch . Dann kannst du nur der -«
»Der Hüter ist tot. Ich bin nur noch sein Schatten.«
Irina wankte, obwohl kein neuerlicher Todesimpuls aus den Reihen ihrer Sippe sie traf. Die Vorstellung, bei Landru könne es sich tatsächlich um den vermißten Hüter handeln, war mehr, als ihr Verstand in diesem Moment zu fassen vermochte.
Andererseits erklärte es seine Macht. Die Beliebigkeit und Leichtigkeit, mit der er unter einer ganzen Sippe wütete.
Rasputins Klatschen, das immer noch dem zuletzt getöteten Vampir zu gelten schien, weckte sie wie aus einer Trance.
»Hör auf«, sagte sie leise.
Sie forderte nicht, sie flehte.
»Zu spät«, sagte Landru. »Meine Entscheidung ist gefallen. Bei Morgengrauen wird es diese Sippe nicht mehr geben. Bei Morgengrauen wird dieser Palast nur noch von einem Regenten bewohnt sein. Aber ich werde dafür sorgen, daß Nikolaus die Marionette bleibt, die er immer war. Nach außen wird sich wenig ändern. Rasputin wird sein engster Berater bleiben. Aber er wird dieses Reich so lenken, daß die Welt eine Zukunft hat. Das Geschehene ist nicht mehr ungeschehen zu machen. Die schwere Kriegslokomotive, die in Fahrt gekommen ist, wird nur langsam wieder zu bremsen sein. Aber ich werde die Weichen stellen. Das Blutvergießen muß ein Ende haben.«
Irina kniff die Lippen zusammen. »Ich kann nicht glauben, daß du mich schonen wirst. Warum solltest du? Warum sollte ich die einzige Überlebende sein? Ich würde überall herumziehen und den Sippen erzählen, daß der Hüter auch ein erbarmungsloser Killer ist. Einer, der die Saat, die er ausbrachte, auch wieder ausmerzt.«
»Das wirst du nicht tun.« »Ich werde. Das schwöre ich.«
»Du willst, daß ich auch dich den Schirlingsbecher trinken lasse«, durchschaute er sie.
»Was sollte ich ohne meine Familie?«
»Die Welt erforschen und mir zur Hand gehen.«
»Wobei?«
»Bei der Suche. Ich habe lange genug allein und vielleicht deshalb vergeblich nach dem Lilienkelch gesucht. Vom jetzt an werde ich von dir unterstützt.«
»Von mir?« Irina schüttelte in vollster Überzeugung den Kopf. Obgleich der Gedanke sie reizte, würde sie sich lieber selbst richten, als diesem Richter und Henker einen Gefallen zu tun. »Niemals!«
»Wer sagt, daß du eine Wahl hast?« Landrus Lächeln schien die Temperatur im Saal um Grade fallen zu lassen.
Mit diesen Worten setzte er die Vollstreckung seines Urteils fort.
Am Ende waren nur noch er, Irina, Rasputin und Ilja übrig.
Und Ilja starb den gräßlichsten Tod von allen.
Es schien ganz natürlich. Wenn man es aus der Sicht eines Monsters betrachtete.
*
Irina watete durch die Asche ihrer Familie und erstieg das Thronpodest. Landru hatte sie zu sich zitiert, und ihr Körper gehorchte, als wäre die jahrhundertelange Herrschaft darüber nur Illusion gewesen.
Ihr schwindelte. Sie hatte das Gefühl, über einem brodelnden, lavaspeienden Vulkan zu schweben, im Auge eines abseitigen Taifuns, im Zentrum eines immer rasender rotierenden Wirbels.
»Demütige ihn nicht so - falls er noch am Leben ist.«
Sie lauschte ihrer eigenen Stimme. Sie lauschte einer Fremden, während sich ihr Innerstes, ihre dunkle, frierende Seele in den ent-ferntesten Winkel ihrer Hülle aus Fleisch und Blut zurückzuziehen versuchte.
»Was ist Leben?« erwiderte Landru. »Euer kelchgeschenktes Dasein habt ihr nur mir und meinen Vorgängern zu verdanken.«
»Vorgänger?« echote Irina. »Du hattest ... Vorgänger? Was ist aus ihnen geworden?«
Eine Million anderer Fragen, die ewig ungestellt bleiben würden, brannten ihr auf der Zunge.
Trotz der Totenasche, die über den Boden verstreut lag.
Trotz der Sterbeimpulse ihrer Sippe, von denen ein jeder ein Loch in ihr Bewußtsein gebrannt hatte.
Trotz dem, was Ilja blühte ...
Irina beobachtete, wie das Tuch über dem Kopf des Patriarchen rhythmisch eingezogen wurde und sich wieder nach außen stülpte. Wie eine Membran.
»Er atmet.« Es schien, als spräche Irinas Mund jeden Gedanken aus, der ihr wichtig erschien. Sie konnte es nicht verhindern.
»Natürlich atmet er - noch.«
»Warum wehrt
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