Die dritte Weissagung
sahen.
Sie aber wußten es zu dieser Zeit noch nicht.
*
Vatikanstadt 28. September 1978, nach 21:30 Uhr
Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, unbemerkt in die Vatikanstadt einzudringen. Denn der Weg durch die Luft war unbewacht; jedenfalls wäre eine Fledermaus, die in diesen kleinsten Staat der Welt flog, niemandem dergestalt aufgefallen, daß er die Beobachtung gemeldet oder ihr auch nur selbst größere Bedeutung beigemessen hätte .
... aber Irina wählte den Weg zu Fuß in die Citta del Vaticano. Die Gestalt der Fledermaus war ihr nach wie vor zuwider. Nach all den Jahren immer noch .
Wie eine Touristin spazierte sie die Via di Porta Angelica entlang und fiel, wenn überhaupt, nur deshalb auf, weil sie zu so später Stunde noch allein unterwegs war. Tagsüber herrschte reges Treiben um die Vatikanstadt herum sowie auf dem Petersplatz und im Petersdom, jenen beiden vatikanischen Bereichen, die Fremden zugänglich waren. Nachts indes kehrte Ruhe ein.
Irinas Schritte hallten hohl von der Mauer wider, die zu ihrer Rechten verlief. Ein Stück weiter vorne, nahe des vatikaneigenen Postamtes, wußte sie ein Tor, das in die Stadt führte. Diesen Weg wollte sie nehmen.
Sie gab sich vollkommen arglos. Als sie um die Ecke bog, hielt den Blick leicht gesenkt - und entließ einen leisen Ruf des Erschreckens, als sie gegen jemanden prallte!
»Wohin des Wegs?«
Irina wurde auf italienisch angesprochen, nicht ganz akzentfrei.
Sie hob den Kopf, blinzelte beinahe schon auffällig verwirrt und lächelte dem Schweizergardisten schließlich betont unsicher zu.
Ein Milchgesicht, noch grün hinter den Ohren, und die gelb-blaue Uniform roch regelrecht neu.
Irinas Lächeln vertiefte sich um eine Nuance.
»Ich wollte nur . Spazierengehen«, sagte sie.
»Hier dürfen Sie nicht herein«, erklärte der Gardist bestimmt.
»Sind Sie sicher?«
Der junge Bursche öffnete schon den Mund, eine Erwiderung auf der Zunge - aber kein Wort drang über seine Lippen. Und im nächsten Augenblick hatte er bereits vergessen, was er hatte sagen wollen.
Schritte klangen hinter Irina auf. Ein Schatten schob sich zwischen sie und den jungen Gardisten.
»Gibt es Probleme, Eric?« fragte eine rauhe Stimme.
Irina wandte sich nicht nach dem zweiten, unüberhörbar älteren Gardisten um. Ihr Blick hing wie gebannt an ihrem Gegenüber, fesselte ihn - spielte mit ihm.
Wie ein Fisch auf dem Trockenen bewegte er die Lippen, ohne einen Ton hervorzubekommen. Irina wühlte förmlich mit unsichtba-ren Fingern in seinem Kopf, wirbelte seine Gedanken durcheinander und verwirrte ihn bis an die Grenze des Erträglichen.
»Signorina?« sprach der andere sie jetzt direkt an. »Was wollen Sie hier?«
Irina antwortete, ohne ihn anzusehen.
»Das wollen Sie nicht wissen.«
»Das . das will ich nicht wissen«, echote der andere lahm.
»Vergeßt beide, daß ihr mich gesehen habt«, verlangte Irina.
Sie wartete die Antwort der Gardisten nicht ab. Sie wußte, daß ihre Begegnung schon in diesem Moment aus beider Gedächtnis gelöscht war.
Wie ein Schatten huschte sie an ihnen vorüber.
Und in der nächsten Sekunde verschmolz sie mit den Schatten, im Begriff und bereit, den dunkelsten aller Schatten über den Vatikan zu breiten - und über die Welt.
Den Schatten tiefster Trauer ...
*
Nichts und niemand stellte sich Irina in den Weg.
Wann immer sie auch nur das geringste Geräusch vernahm, wurde sie gleichsam unsichtbar, wartete vollkommen lautlos, bis der-oder diejenigen verschwunden waren, dann erst ging sie weiter.
Es war wie ein Spiel. Ein Nervenkitzel, den sie genoß, weil sie wußte, daß ihr letztlich nichts geschehen konnte.
Das Risiko trug allein ihr Auftraggeber.
Er (oder waren es deren mehrere? Das wußte Irina nicht, und es war im Grunde auch nicht von Belang) hatte ihr die Pläne zukommen lassen, nachdem sie den Auftrag angenommen gehabt hatte. Diesen Unterlagen hatte die Vampirin nicht nur die Grundrisse der relevanten Gebäude entnehmen können, sie hatten ihr auch verraten, wann wo mit einer Patrouille zu rechnen war und welcher vati-kanische Würdenträger hinter welcher Tür residierte.
Aufgrund dieser Informationen, die selbst ihr einflußreicher Auftraggeber nur unter größten Mühen aus dem Vatikan hatte schmuggeln können, war es beinahe schon ein Kinderspiel, zu einem der wichtigsten Männer dieser Welt vorzudringen.
Die hohen, bisweilen kathedralenartig anmutenden Gänge und Hallen, die Irina wie auf Samtpfoten durchquerte,
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