Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Ich war nun doch in Panik und versuchte sie darum eigenhändig von der Burgmauer zu stoßen, aber eine magische Kraft schien sie zurückzuhalten. Ich spürte, wie unsichtbare Hände mich fortstießen und sie umklammerten, und die Schreie der körperlosen Seelen drangen schrill und schmerzhaft in mein Gehirn.
Währenddessen zog unaufhaltsam der Morgen herauf. Ich griff nach meiner Mutter, zerrte sie förmlich in meine Arme und versuchte so, mit ihr gemeinsam hinunterzuspringen. Vergebens, ein grauenhafter Wirbel kreischender verfluchter Seelen hüllte uns ein wie ein Tornado und warf uns zurück auf die Burgmauer.
»Es ist sinnlos, Amanda, du musst ohne mich gehen.«
»Ich lasse dich hier nicht zurück!«
»Aber es gibt keinen anderen Weg. Ich bin an diesen Ort gebannt, und wenn du nicht sofort springst, wirst du ein Opfer der Flammen oder im Licht des Tages zu Asche zerfallen!«
Ich erinnerte mich an das mickrige Häufchen, das von Graf Orlok übrig geblieben war, und fand diese Aussicht wenig attraktiv, aber wir hatten die weite Reise hierher nicht gemacht, um meine Mutter weiter in den Klauen von Utz zu lassen.
»Ich kann dich nicht in seiner Gewalt zurücklassen!«, schrie ich fest entschlossen. »Ich werde nicht gehen, solange du hier bist!«
»Du wirst«, sagte sie, küsste mich und murmelte kaum hörbar, »du wirst gehen, denn ich werde nicht mehr hier sein.« Und mit den Worten »Ich habe dich immer geliebt, Amanda, du warst mein Licht, leuchte nun für die anderen, die dich lieben«, stürzte sie sich in die Flammen.
Ich schrie in höchster Verzweiflung auf und wollte ihr hinterherstürzen, aber ich war zu keiner Bewegung fähig. Mit Grauen erwartete ich, sie wie den Radke unter unendlichen Qualen verbrennen zu sehen. Und konnte es nicht fassen, dass sie, um mich zu retten, sich selber auf so entsetzliche Weise opferte. Aber kaum war meine Mutter Estelle in das Feuer getreten, da teilte sich das Flammenmeer wie die Fluten des Nils um Moses und die Kinder Israels – und sie stand aufrecht und frei von einem strahlenden Feuerschein umgeben mittendrin. Dann züngelten aus der Feuerhölle einzelne Flammen hervor und leckten eine Existenz nach der anderen von ihrer Seele. Wie eine Schlange sich häutet,so legte sie auf diese Weise ohne jeden Schmerz einen Körper nach dem anderen ab und die Prophezeiung der Zigeunerin Romina erfüllte sich.
Estelle löste sich in einem blauen Schimmer auf, aus dem rot und prall Eleonore als gräfliche Buhlschaft hervortrat, die aber ebenfalls von den Flammen weggewaschen wurde. Dann erschien das einfache Bauernmädchen, welches Ladislav von Przytulek schänden und foltern ließ. Es löste sich in reiner weißer Glut auf und gab schließlich die Seele frei, die als flirrende Lichterscheinung an den nun noch einmal mächtig auflodernden Flammen aufwärts zum Himmel stieg, sich wie ein Nebel in Milliarden einzelner Teilchen zerstäubte und in einem farbenprächtigen Elmsfeuer verschwand.
Einen Moment glaubte ich Musik zu hören, ein rauschendes Crescendo und dann ein perlend schmelzendes Adagio, und wenn Töne Farben hätten, so wären sie gewesen wie schimmerndes Perlmutt, wie ihre Seele, so vielfarbig und schön.
Ich merkte, dass mir die Tränen über das Gesicht liefen, hatte aber ansonsten alles um mich herum vergessen. Einen Moment lang fühlte ich ganz intensiv und beglückend, wie meine Seele von meiner Mutter zum Abschied gestreichelt wurde. Dann verklang die Musik und das Licht löste sich in einen diffusen Dunst auf, der bald von dem schwarzen Qualm, der aus der brennenden Burg drang, überlagert wurde.
Erst jetzt merkte ich, dass ich nun völlig von den Flammen eingeschlossen war, die bereits den Saum meines Rockes in Brand gesetzt hatten. So blieb mir nur die sofortige Flucht über die Burgmauer. Als ich mich hinüberbeugte, sah ich Friedrich, Conrad und Vanderborg mit dem Autounten am Fuße der Burg stehen, das sie in der Zwischenzeit offenbar von Friedhof geholt hatten. Friedrich wedelte mit den Armen und schrie zu mir herauf: »Spring, Amanda, spring! Du schaffst es, ich fange dich auf !«
Und so schloss ich die Augen und stürzte mich kopfüber in die Tiefe, direkt in Friedrichs starke Arme.
Nur wenige Meter entfernt stand das Automobil mit laufendem Motor und Conrad am Steuer. Wir rannten hinüber, sprangen auf die hintere Sitzbank und Lenz raste davon, obwohl Friedrich ihn zurückhalten wollte.
»Nicht, Lenz! Wir können nicht ohne Estelle
Weitere Kostenlose Bücher