Die Dunkle Erinnerung
und fragte: »Wo halten Sie Cody Sanders fest?«
18.
Ryan legte dem schlafenden Jungen die Hand über den Mund.
Erschrocken schlug Cody die Augen auf.
»Ich bin's«, flüsterte Ryan. »Wir hauen ab. Noch heute Nacht.«
Cody zog die Augenbrauen zusammen.
»Ich nehme jetzt meine Hand weg. Du musst ganz, ganz still sein.«
Cody nickte. Ryan zog die Hand fort.
»Ich hab gedacht, du wolltest noch ein paar Tage warten«, sagte Cody. »Bis es dir besser geht.«
»Hab's mir anders überlegt.« Heute Nacht war die beste Gelegenheit. Wenn sie warteten, mochte der Himmel wissen, wann sie ihre nächste Chance bekamen. »Der General ist heute Nachmittag weggefahren, und man weiß nie, wann er zurückkommt.«
»Aber dir geht's doch sauschlecht. Wie willst du das denn durchhalten?«
Ryan war es nicht gewöhnt, dass sich jemand Sorgen um ihn machte, und seine Antwort klang barscher als beabsichtigt. »Ich schaff das schon. Außerdem – wenn wir jetzt nicht abhauen, schicken sie dich weg, und du kommst irgendwohin, wo es noch schlimmer ist als hier.« Und mich werden sie töten.
»Wo würden die mich denn hinschicken?«
»Weiß ich nicht genau, aber ich kann dir versprechen, dass man dort kein Englisch versteht.«
Der Junge erschauerte. Es war das erste Anzeichen wirklicher Angst, das Ryan an ihm wahrnahm. »Was wollen die denn mit mir machen?«
»Stell nicht so blöde Fragen. Also, kommst du jetzt mit oder nicht?«
Für einen Moment schien Cody durch Ryans schroffe Erwiderung verletzt zu sein, dann aber nickte er und stemmte sich vom Bett hoch. »Ich bleib dir auf den Fersen.«
»Zieh was über.« Ryan schlich zur Tür, drückte das Ohr gegen das Holz und horchte, ob jemand im Korridor war.
Stille. Wie er erwartet hatte.
Cody aus dem Zimmer zu schmuggeln war noch der leichteste Teil der Aufgabe. Keiner der Diener hatte hier etwas zu suchen, besonders nicht nachts. Ryan konnte diese Maßnahme gut verstehen: Was sie nicht sahen und wussten, konnten sie auch nicht ausplaudern. Man war besser beraten, wenn man sich den Vorgängen im Haus gegenüber blind stellte. Auch Ryan hatte es einst so gehalten, und ein Teil von ihm wünschte immer noch, er hätte niemals die Augen geöffnet. Doch nun war es für Vorbehalte zu spät, und der dumpfe Schmerz an seinen Rippen mahnte ihn, sein Vorhaben auszuführen.
Cody brauchte weniger als eine Minute, um sich anzuziehen. »Fertig.«
Ryan schaute den Kleineren an und las in dessen Augen Entschlossenheit und Mut. Der Junge hatte mehr Mumm als Hirn, er verdiente das Leben nicht, das Trader und der General ihm zugedacht hatten.
Ryan mahnte Cody mit erhobener Hand, noch einen Augenblick zu warten, und trat dann selbst hinaus in den Korridor. Niemand zu sehen. Er machte die Tür weiter auf. Cody gesellte sich zu ihm. Ryan erwartete nicht, dass sie zu dieser späten Stunde auf eine Menschenseele stoßen würden, auf jeden Fall nicht im Haus. Draußen – das war eine andere Sache.
»Was ist mit den Hunden?«, fragte Cody, als habe er Ryans Gedanken gelesen.
»Hab denen Gift ins Futter gemischt.« Während Ryan im Vorratsraum neben der Küche nach Aspirin gesucht hatte, war er auf das Rattengift gestoßen, das neben den Reinigungsmitteln auf dem Boden stand. Sofort hatte er gewusst, was er tun musste. Um zu fliehen, mussten sie an den Hunden vorbei. Egal, wie.
Die Vorstellung allerdings, einem Tier etwas anzutun – und sei es nur einem der verhassten Köter des Generals –, drehte Ryan den Magen um. Aber was blieb ihm übrig? Außerdem sind Hunde um einiges größer als Ratten, redete er sich ein, sodass das Gift sie lediglich eine Zeit lang krank machte. Also hatte er eine Hand voll Gift in einen alten Lappen geschüttet und in die Tasche gesteckt. Später, als er Codys Tablett holte, hatte er das Gift ins Hundefutter gemischt.
»Ich hoffe nur, ich hab denen genug gegeben«, sagte er, mehr um sich selbst zu beruhigen.
Die beiden Jungen schlichen über den Korridor zur Hintertreppe, die hinunter in die Küche führte. Wie am Vorabend hielt Ryan auf der untersten Stufe an und horchte, bevor er die Tür öffnete.
Stille.
Er machte die Tür auf, und sie schlüpften in die verlassene Küche. Anders als in der Nacht zuvor schlug Ryan den Weg zum hinteren Korridor ein, der an den Schlafzimmern der Dienstboten vorbeiführte. Er bedeutete Cody, ganz leise zu sein. Sie schlichen durch den Korridor an den geschlossenen Türen vorbei. Dies war der gefährlichste Teil des
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