Die Dunkle Erinnerung
Nur wenige Leute hätten in Erin die elegante Frau wiedererkannt, die soeben die deutsche Botschaft verlassen hatte.
Alec ließ sich neben Erin auf die Bank fallen. So nahe bei ihr spürte er, wie der Zorn wieder hochkochte. »Wollen Sie mir jetzt verraten, was das sollte?«
»Neville ist in die Sache verwickelt.«
Alec schnaubte verächtlich. »Haben Sie Beweise?«
Erin beugte sich vor und zog einen Ordner aus der Aktenmappe. »Lesen Sie.«
Mithilfe einer Stiftlampe studierte Alec zehn Minuten lang die dreiseitige Akte. Auf der ersten Seite war eine vollständige Aufstellung von William Nevilles ursprünglichen Aktivitäten in Thailand, Brasilien, Indien und Afrika. Wo er Firmen gekauft und verkauft hatte und welche Rohstoffe er erworben oder veräußert oder gehandelt hatte. Die Akte war weitaus detaillierter als jene Unterlagen, die Alec zur Verfügung gestanden hatten.
Auf dem zweiten Blatt fand sich eine Zusammenfassung über die größten Sklavenmärkte der Welt: Brasilien, Bolivien, Thailand, Afrika. Wie man Sklaven erwarb. Wie man sie benutzte. Was Alec las, traf ihn bis ins Mark. Das weltweite Sklavenproblem hatte ihn nie sonderlich interessiert, aber diesen Unterlagen zufolge war es ernst zu nehmen und weit verbreitet.
Auf der dritten Seite war die Verbindung zwischen William Neville und dem Sklavenmarkt vermerkt. Obwohl es sich ausschließlich um Indizienbeweise handelte, wurde die Verbindung nachgewiesen.
Diese Unterlagen hatte ein brillanter Kopf zusammengestellt.
»Woher haben Sie das?« Die Dokumente trugen keinen Stempel.
»Aus der gleichen Quelle, die mir die Informationen über Garth geliefert hat.« Nun begriff Erin seine Zwangslage. »Hören Sie, Donovan, ich habe Zugang zu anderen Informationen als Sie, besonders auf internationaler Ebene.«
»Scheint so.« Alec fragte nicht, für wen sie arbeitete, so sehr es ihn auch danach drängte. Wenn sie es ihm sagen wollte, gut. Ansonsten konnte er es sich an fünf Fingern abzählen. Ihr Training, die Jahre im Ausland, der Zugang zu Informationen, die für ihn unerreichbar waren, und ihre Vertrautheit mit der Welt der Diplomatie.
Nun rundete sich das Bild. Erin Baker war bei der CIA. Alec hätte sein Leben darauf verwettet. Er hoffte nur, dass er nicht gerade Codys Leben mit aufs Spiel setzte.
»Okay, nun verstehe ich, warum Sie glauben, dass Neville mit der Sache zu tun hat, aber ein Beweis ist das immer noch nicht.« Alec brauchte mehr. Und Cody brauchte mehr als die Theorien eines genialen CIA-Analysten. »Und nichts, aber auch gar nichts deutet auf eine Verbindung zu dem Jungen hin.«
Nun blickte Erin ihn zum ersten Mal an. Ihre Augen funkelten gefährlich. »Da ist die Desert Sun, da ist der Magician und ein kleines Mädchen namens Suzie.«
Alec schwieg einen Moment. Er verstand ihren Zorn und ihre Verzweiflung. Sein Instinkt, all seine Erfahrung, die er in fünfzehn Jahren beim FBI und in acht Jahren als CAC-Koordinator bei der Jagd auf Kindesentführer gesammelt hatte, sagten ihm, dass es eine Verbindung geben musste. Dass William Neville der Schlüssel war, der Mann, der sie letztlich zum Magician und zu Cody Sanders führen würde. Doch Neville war Diplomat er war der deutschen Botschaft attachiert und genoss daher eine gewisse Immunität. Doch selbst wenn diese Klippe zu umschiffen war, gab es immer noch das Problem eines ordentlichen Verfahrens, das weder er noch Erin ignorieren konnten.
»Ich wünschte, es würde reichen«, sagte Alec und meinte es auch so. »Aber das sind leider bloß Vermutungen. Ich verstehe nicht, wie Sie alles, einschließlich Cody, in Gefahr bringen konnten, indem Sie Neville attackiert haben.«
Einige Sekunden lang hielt Erin seinem Blick trotzig stand. »Es war ein kalkuliertes Risiko. Ich musste rauskriegen, ob Neville involviert ist.«
Zorn, heißer, roter Zorn wallte in ihm auf. Fast hätte er sie angeschrien. »Wer gab Ihnen das Recht zu diesem Auftritt? Das Leben eines Jungen steht auf dem Spiel!«
»Meinen Sie etwa, ich wüsste das nicht?« Nun war auch sie aufgebracht; die Erinnerung an den Verlust der Schwester verdüsterte ihren Blick. »Aber wir haben ja nichts als Vermutungen.« Erin tippte auf den Ordner, den Alec in der Hand hielt. »Falls Sam sich irrt, falls wir uns wegen Neville irren, verschwenden wir mit seiner Verfolgung nur Zeit. Ich habe ihn absichtlich bedrängt, um ihn aus der Reserve zu locken.«
Einen Augenblick lang fehlten Alec die Worte. Er mochte einfach nicht glauben,
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