Die dunkle Seite der Dinge
Frau war also noch am Leben.
„ Ricarda, wo sind Sie denn
überhaupt?“
„ Habe ich das nicht
gesagt?“
„ Nein!“
„ Sie müssen zum
Kaufhof in die Schildergasse kommen. Dort fragen Sie nach dem Büro
des Sicherheitsdienstes.“
„ Ich komme“, schrie
Wellinger und hastete aus seinem Büro.
Sie waren zurück! So bald
schon? Mahima lief zum Platz in der Mitte des Flüchtlingslagers,
auf dem die Jeeps vorgefahren waren. Doch so sehr sie den Kopf
reckte, nirgends war das geliebte Gesicht zu finden. Die Männer,
die aus den Wagen kletterten, gestikulierten wild und dann drang die
Nachricht zu ihr durch. Jan war tot. Bei einem heimtückischen
Überfall von Rebellen ermordet. Mahima schwankte. Ein Rauschen
erfüllte ihre Ohren und die Welt um sie herum begann sich zu
drehen. Schneller und schneller wirbelte sie im Kreis, bis alle
Konturen miteinander verschwammen. Das Rauschen wurde zu einem
Dröhnen und riss sie mit sich. Wie in Trance spürte sie
eine Hand auf ihrer Schulter. Jemand sprach auf sie ein, aber die
Worte drangen nicht zu ihr durch. Sie taumelte. Jeden Moment würde
sie inmitten der Menge zusammenbrechen. Wenn sie das zuließe,
war sie verloren.
Nein, es waren nicht die
Rebellen gewesen, die Jan getötet hatten! Sein geliebtes Gesicht
tauchte vor ihr auf. Diese Erinnerung war das Einzige, was sie von
ihm besitzen durfte. Nun lag es an ihr, Mut zu beweisen. Wenn sie
sich stattdessen feige wie ein Schakal davon schlich, hätte Jan
umsonst sein Leben gelassen. Mit übermenschlicher Kraft
unterdrückte sie das Rauschen in ihren Ohren und befahl der
Welt, stillzustehen. Dann bahnte sie sich ihren Weg durch die
gaffende Menge.
Ungesehen schlüpfte sie in
Jans Zelt. Ihr Blick fiel auf sein Hemd, welches er auf dem schmalen
Feldbett zurückgelassen hatte. Sie griff danach und drückte
ihr Gesicht in den Stoff. Der vertraute Geruch versetzte ihr einen
schmerzvollen Stich, der sie erneut wanken ließ und nur mit
äußerster Anstrengung legte sie das Hemd zurück.
Schnell kniete sie sich vor der kleinen Kommode nieder und riss die
unterste Schublade auf. Sie tastete den rauen Boden ab, doch ihre
Hand griff ins Leere. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und hektisch
zerrte sie an der zweiten Schublade. Wieder begaben sich ihre Finger
auf die Suche, bis sie schließlich die schmale Erhebung fühlen
konnte. Mit einem kräftigen Ruck löste Mahima das Tagebuch
vom Unterboden und sprang auf die Füße. Das Büchlein
verschwand in den Falten ihrer Schürze. Nur weg von hier! Doch
noch ehe sie die Zeltöffnung erreicht hatte, vernahm sie schwere
Schritte. Dunkle Männerstimmen begleiteten den unheilvollen
Marsch. Sie kamen schneller, als erwartet. Mahima saß in der
Falle.
Sie wich zurück und entsetzt
beobachtete sie, wie zwei kräftige Hände die Plane
auseinander zwangen. Schutz suchend warf sie sich hinter der Pritsche
auf den Boden. An dieser Stelle war die Zeltplane gerissen und hob
sich ein Stück über den Boden ab. Schnell kroch sie ins
Freie.
Kapitel 17
„ Schießen Sie los!“
Nach einer schier endlosen Fahrt
befand sich Wellinger endlich im Büro des Sicherheitsdienstes.
Der Kölner Stadtverkehr brachte ihn mit verlässlicher
Regelmäßigkeit um den Verstand. Nun stand er angespannt
vor Ricarda, die ihn mit glühenden Wangen in Empfang genommen
hatte.
„ Also, ich habe doch heute
meinen freien Tag und wollte mir etwas Schönes zum Anziehen für
die Hochzeit meiner Schwester kaufen.“
„ Wen interessiert das?“,
brüllte Wellinger. Alle Anwesenden fuhren erschrocken zu ihnen
herum.
„ Entschuldigung“,
stammelte Ricarda, fasste sich aber sofort wieder und erstatte ihm
Bericht. „Der Hausdetektiv hat eine Frau beim Ladendiebstahl
erwischt und wollte sie stellen, aber sie ist davongelaufen. Ich
stand zufällig ganz in der Nähe. Die Kundin, wenn man sie
denn so nennen kann, ist direkt an mir vorbei gerannt. Es war die
Afrikanerin. Ich bin ganz sicher. Ich habe noch versucht, sie
festzuhalten, aber sie hat mir einen heftigen Schlag versetzt, so
dass ich in einen Verkaufsstand gefallen bin.“ Ricarda zeigte
auf eine Schramme an ihrem Arm, die sie sich bei dem Sturz zugezogen
hatte. „Natürlich bin ich ihr nach, aber sie rannte, als
wäre der Teufel hinter ihr her. In dem Gewühl habe ich sie
dann verloren. Also bin ich zum Sicherheitsdienst zurück, habe
die Kollegen von der Streife und die Taxizentrale informiert und mir
die Aufnahme der Überwachungskamera zeigen lassen. Kommen
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