Die dunkle Seite der Dinge
Gabel zum Mund führte.
„ War ja klar, dass du
wieder meckerst.“ Lennart verdrehte die Augen. „Und du
gib Ruhe!“ Er schubste den Kater sanft an. „Du hast schon
genug für heute!“ Tatsächlich legte Mister Frizzle
seinen Kopf zurück auf die Brust des Jungen.
Wellinger schob sich eine weitere
Portion Gulasch in den Mund. Wer würde streiten, wenn man diese
Köstlichkeit genießen durfte?
„ Wie war's denn heute?“,
versuchte er das Thema zu wechseln.
„ Och, wie immer“,
nuschelte Lennart und schaute weiter gebannt auf den Fernseher.
Wellinger kaute mit ausladenden
Bewegungen weiter. „Nichts Besonderes unternommen?“
„ Nö!“, lautete
die knappe Antwort vom Sofa.
Ungeduldig wippte Wellinger mit
dem Fuß. Er hatte Lennart doch mit Franziska gesehen. Warum
sagte der Junge nichts? „Niemand getroffen?“, hakte er
nach.
„ Nö, nur ein paar
Klassenkameraden.“
Verdammt nochmal! Was sollte das?
Unbeherrscht knallte er den Teller auf den Tisch, so dass ein Teil
des Gulaschs auf der Fernsehzeitung landete. Erschrocken riss Mister
Frizzle den Kopf hoch und sofort erkannte er seine Chance. Mit einem
Satz sprang er auf den Tisch und machte sich über die
Fleischstücke her.
„ Was hat dich denn
gebissen?“ Auch Lennart war vom Sofa hoch geschreckt.
„ Überhaupt nichts!“,
fuhr Wellinger ihn an. Er schnappte sich seine Schlüssel und
verließ Türe knallend das Haus. Schon das dritte Mal an
diesem Tag ergriff er die Flucht. Erst in seinem Büro, dann vor
der Eisdiele und nun auch noch in seinem eigenen Zuhause. Hätte
man ihn gefragt, er hätte nicht zu sagen gewusst, was ihn mehr
bedrückte. Dass sein Sohn ihn anlog oder dass Franziska ihn
hinterging.
Zärtlich nahm Jan Mahima in
den Arm. Sie schmiegte sich an ihn und schnupperte an seinem Hemd.
Der Augenblick war nur flüchtig, dafür umso kostbarer.
„ Mahima, look!“ Der
junge Arzt löste sich von ihr und ging zu seinem Nachttisch.
Dort nahm er sein schwarzes Tagebuch in die Hand. Aus der Schublade
entnahm er eine Rolle Klebeband. Damit begab er sich in die Hocke,
öffnete eine weitere Schublade und befestigte das Buch unter dem
Holzboden. Vorsichtig schloss er die Schublade wieder und legte die
Finger auf seine Lippen.
Sie wiederholte die Geste und
nickte.
Er würde nur die nötigsten
Dinge einpacken, denn schon in drei Tagen würde er ins
Flüchtlingslager zurückkehren. Mit einem Handy hatte man in
dieser gottverlassenen Gegend keinen Empfang und auch die Funkstation
war außer Gefecht gesetzt, nachdem die Rebellen die Leitungen
gekappt hatten. Er würde die gefährliche Reise in die
nächste Stadt auf sich nehmen müssen, weil sein Gewissen
ihm sagte, dass dies der einzig richtige Weg war. Er konnte nicht
warten, bis Esther zurück kehrte. Mit ihr hätte er über
das Unaussprechliche reden können. Sein Herz wurde schwer, als
er an das vierjährige Mädchen dachte, das in seiner Obhut
gestorben war. Dann wanderten seine Gedanken zu dem siebenjährigen
Jungen, der überlebt hatte. Es war schwierig gewesen, zwischen
richtig und falsch zu unterscheiden, doch er hatte seine Wahl
getroffen.
Noch ein letztes Mal nahm er
Mahima in den Arm und gab ihr einen Kuss, dann hob er den Koffer auf
und trat aus dem Zelt. Der kleine Konvoi stand zur Abfahrt bereit.
Sie würden den ganzen Tag unterwegs sein, bis sie in der Stadt
ankommen würden. Dort würde Jan einen Tag verbringen und am
darauffolgenden Tag ins Flüchtlingslager zurückkehren.
Die Fahrt verlief ruhig. Jan
bezog ein spärlich möbliertes Zimmer, doch eine innere
Unruhe trieb ihn sofort wieder auf die Straße. Er würde
noch an diesem Abend den ersten Anruf tätigen. Zuversichtlich
steuerte er ein kleines Internet Café in der Nähe seines
Hotels an, als sich aus der Dunkelheit plötzlich schnelle
Schritte näherten. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Erst
jetzt wurde ihm die ganze Tragweite seines Handelns bewusst. Und dass
er allein unterwegs war. Aus dem Schatten formte sich die Gestalt
eines kleinen Jungen. Überrascht schaute Jan ihn an.
„ Doctor, you Doctor! Come!
Please come!“, rief der Junge aufgeregt und zerrte an seiner
Hand. Von der Dringlichkeit in der Stimme des Kindes angetrieben,
stolperte Jan ihm hinterher und ließ sich durch die belebten
Straßen führen.
„ Come! Please, come!“,
rief der Junge unablässig und zog ihn weiter durch die Stadt.
Nun bogen sie in eine winzige Gasse ein. Unvermittelt riss sich das
Kind los und verschwand in der
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