Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
nach.«
Ingrid Sainte-Rose klappte ihr Notizbuch zu.
»Das ist nicht gerade viel«, meinte Mistral. »Was war sie von Beruf?«
»Juristin. Sie arbeitete in einer Kanzlei in der Rue du Faubourg Saint-Honoré.«
»Gut. Roxane und Sébastien, ihr beide fahrt bei diesem Notar vorbei«, sagte Calderone. »Womöglich erfahren wir noch etwas mehr. Wir müssen noch einmal zurück in die Wohnung, um alles zu beurkunden und vielleicht noch etwas über die Dame herauszufinden.«
»Hier ist übrigens das Blatt, das man auf ihrem Körper gefunden hat. The Sun Also Rises steht darauf. Falls jemandem etwas dazu einfällt, wäre ich ein dankbarer Abnehmer.« Mistral schwenkte die Klarsichthülle.
»›Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich. Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie wieder daselbst aufgehe‹. So oder so ähnlich heißt es im Buch Prediger – ich zitiere aus dem Gedächtnis. Der Titel von Hemingways Roman ist daraus entlehnt.«
Dalmate sprach langsam und ruhig. Seine Augen schweiften in die Ferne. Alle schwiegen und blickten ihn verblüfft an.
»Wo hast du das denn her?«, fragte Calderone.
»Ich war mal auf dem Priesterseminar«, sagte Dalmate leise. »Ich habe das Buch Prediger studiert.«
»Priesterseminar? Wolltest du etwa Pfarrer werden?«, grinste Sébastien. »Bist du deswegen immer so ernst und trägst dauernd schwarze Klamotten?«
Mistral griff ein.
»Sollten Sie nicht zum Arbeitgeber der Dame fahren?«
Sébastien und Roxane machten sich auf den Weg. Mistral hatte schnell klargemacht, dass ihre Witzelei nicht bei allen gut angekommen war.
»Wenn man den von dir zitierten Satz weiterdenkt, könnte man seinen Inhalt vielleicht mit unserem Fall in Verbindung bringen?«
»Das weiß ich nicht; darüber muss ich erst nachdenken. Es ist mittlerweile fast zehn Jahre her, dass ich das Priesterseminar verlassen habe.«
»Gut, heben wir uns das für später auf. Leider ist es so, dass manche oberschlau sein wollen und zu viele amerikanische Krimiserien gesehen haben. Sie lassen Zitate herumliegen, die absolut nichts mit dem Fall zu tun haben. Ich rate Ihnen, das Rätsel zunächst links liegen zu lassen und sich auf die Fakten zu konzentrieren.«
»Einverstanden. José und Ingrid, ihr kümmert euch weiter um die Nachbarschaft. Bitte auch in den Häusern nebenan. Wenn nötig, ruft uns an.« Dalmate schwenkte sein Mobiltelefon.
Ein großer, dicker, gutmütig wirkender Mann mit rötlichem Haar und auffällig buschigen Augenbrauen kam auf die Gruppe der Polizisten zu. Er war nachlässig gekleidet und schwitzte stark. Unter den Achseln zeigte sein Hemd große, feuchte Flecken.
»Hey, da ist ja unser ›Augentoupet‹«, flüsterte José Farias grinsend.
»Wer? Was hast du da gesagt?«, erkundigte sich Dalmate.
»Der Typ, der da kommt, ist unser Rechtsmediziner. Bei der ganzen Kripo heißt er nur ›Augentoupet‹. Sieh dir seine Augenbrauen an, und du weißt warum.«
Der Arzt hatte eine große Tasche bei sich. Bei der Polizistengruppe blieb er stehen.
»Hallo, Bullen. Wir haben also wieder mal eine Leiche am Hals?«
»Wir warten nur noch auf Sie – den berühmtesten Rechtsmediziner von ganz Paris! Es ist in der dritten Etage, und zwar ohne Aufzug.«
Calderone begrüßte den Mediziner mit großer Herzlichkeit. Der Arzt gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.
»Als ob ich es geahnt hätte! Na, Vincent? Immer zuverlässig auf dem Posten, wie ich sehe.«
»Warum sollte es auch anders sein? Bisher haben wir die Leiche noch nicht bewegt. Wir haben auf Sie gewartet.«
Mistral, Calderone und Dalmate begleiteten den Arzt nach oben. Die Leute von der Spurensicherung packten gerade ihre Utensilien zusammen, erleichtert darüber, die Wohnung so schnell wie möglich verlassen zu können.
»Wir sind so weit fertig«, sagte der Gruppenleiter zum Arzt. »Aber wir bleiben in der Nähe, falls Sie uns noch brauchen. Nur müssen wir jetzt unbedingt frische Luft schnappen.«
Der Arzt streifte Latexhandschuhe über und kniete sich schnaufend neben die Leiche. Paul Dalmate und Vincent Calderone gingen mit einer Kamera durch die Wohnung und filmten minutiös jedes Zimmer, jede Kleinigkeit und natürlich die Leiche. Als der Arzt mit Mistrals Hilfe die Leiche bewegte, wurde der schreckliche Geruch noch intensiver.
»Durch die Bewegung steigen Gase auf«, kommentierte der Doktor nüchtern, als er sah, wie Mistral blass wurde. »Haben Sie
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