Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
nicht schlafe. Inzwischen macht sie ganz bewusst besonders viel Lärm. Eines Abends ist sie mit einem neuen Kerl heimgekommen. Als sie an meinem Zimmer vorbeikamen, erkannte ich im schwachen Flurlicht, dass es sich vermutlich wieder um einen Unbekannten handelte. Ich war wütend, weil ich wusste, dass sie mir wieder das Gesicht bedecken würde. Ich habe meine Arme auf die Decke gelegt und meine Augen fest geschlossen. Als sie kam, um mich zuzudecken, hielt ich die Decke mit den Armen fest. Mutter hat nichts unternommen. Später bin ich aufgestanden und habe von der Tür aus in ihr Zimmer geschaut. Sie lag auf dem Rücken, und der Kerl war auf ihr. Sie hatte mir das Gesicht zugewandt. Ich bin sicher, dass sie mich gesehen hat. Ich habe mich angezogen. Der Hund ist mir nach draußen gefolgt. Draußen habe ich mich übergeben. Danach bin ich durch die Gegend gelaufen und erst wiedergekommen, nachdem der Kerl zur Arbeit gegangen war. Am Abend haben wir vor dem Fernseher gegessen. Sie hat kein Wort über die Sache verloren.
Der Schrank ist immer noch abgeschlossen. Ich habe überall nach dem Scheißschlüssel gesucht, aber nichts gefunden. Sicher verwahrt sie das Ding in ihrer Handtasche.
Ehe ich schlafen gehe, schaue ich immer lange nach draußen. Es ist wie ein Zwang.
6
D ONNERSTAG , 7. A UGUST 2003
Mistral beendete die Lektüre des Wetterberichts, den die Einsatzleitung ihm in die Unterschriftenmappe gelegt hatte. Die andauernde Hitzewelle würde die Ermittlungen in Todesfällen sicher nicht erleichtern.
»Wetterbericht für Donnerstag, den 7. August 2003: Auch weiterhin liegt Frankreich im Einflussbereich trockener Heißluft. Die vorherrschende Wetterlage wird voraussichtlich noch weitere sieben Tage (bis Donnerstag, den 14. August) anhalten. Bis auf die Küstenregionen, wo seeseitige Winde für eine leichte Abkühlung sorgen, verharren die Temperaturen auf einem für mitteleuropäische Verhältnisse extrem hohen Niveau. Die Nachttemperaturen liegen größtenteils um oder über zwanzig Grad und können lokal bis zu fünfundzwanzig Grad erreichen. Die Tagestemperaturen bewegen sich zwischen sechsunddreißig und vierzig Grad.
Die lange Dauer der extremen Wetterlage ist ungewöhnlich und birgt für empfindliche Menschen (Senioren, Kranke, Säuglinge) gesundheitliche Risiken. Auch wenn im Bergland örtlich Gewitter auftreten können, ist für den Vorhersagezeitraum kein Ende der außergewöhnlichen Trockenperiode in Sicht, die in einigen Regionen bereits zu Problemen führt.«
Ingrid Sainte-Rose hatte Croissants mitgebracht, von denen nicht ein einziges übriggeblieben war. Mistral hatte mit langen Zähnen eines gegessen und während der Lektüre des Wetterberichts und der Berichte der vergangenen Nacht drei oder vier Becher Kaffee getrunken. Calderone, Dalmate, Farias, Félix und Morin hingegen hatten herzhaft zugelangt. Sie saßen am großen Konferenztisch in Mistrals Büro. Der Ventilator drehte sich auf höchster Stufe.
»Jetzt mal ganz im Ernst: Warst du wirklich auf dem Priesterseminar?«, erkundigte sich Sébastien bei Dalmate. Mistral überflog die letzten Ermittlungsberichte im Fall Élise Norman und lauschte der Unterhaltung der jungen Polizisten mit halbem Ohr.
»Ja, war ich. Warum schockiert dich das so?«
Dalmate ist auf der Hut, dachte Mistral.
»Es schockiert mich überhaupt nicht, aber du musst doch zugeben, dass es bei der Polizei eher außergewöhnlich ist. Warum geht man aufs Priesterseminar? Und warum verlässt man es wieder?«
»Das geht doch eigentlich nur mich etwas an, oder?«
»Nichts für ungut, aber du bist ganz schön dünnhäutig. Trotzdem, ich dachte ...«
Mistral wollte vermeiden, dass die Diskussion eskalierte, und unterbrach Morin.
»Könnten Sie das Gespräch bitte vertagen, Sébastien? Wir müssen uns jetzt auf unseren Fall konzentrieren. Ingrid, was haben Ihre Nachforschungen über ähnliche Verbrechen ergeben?«
»Gestern habe ich von einem Kollegen erfahren, dass es vor einigen Monaten fast gleich gelagerte Fälle gegeben hat. Drei ermordete Frauen, in deren Gesicht und Hals Spiegelscherben steckten. Alle wurden post mortem vergewaltigt.«
Im Büro wurde es totenstill.
»Wann war das?«, wollte Calderone wissen.
»Letztes Jahr im September, in einer kleinen Stadt im Département Oise. Der Täter wurde anhand seines genetischen Fingerabdrucks schnell gefunden und verhaftet. Die Opfer wurden im Abstand von zwei bis drei Tagen ermordet – also fand alles innerhalb
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