Die dunkle Seite des Weiß
nicht aus den Augen. Es lag eine merkwürdige Besorgnis in seinem Blick.
»Was guckst du denn so komisch?« Ich merkte, wie sich ein flaues Gefühl in meiner Magengegend ausbreitete.
»Wenn du sie wirklich zurück möchtest, solltest du dich beeilen«, sagte Hades schlicht. »Der Flurfunk ist verlässlich, wie du weißt.«
»Und? Was wird so gefunkt?« Ein heiseres Raspeln schlich sich in meine Stimme. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort wirklich hören wollte.
Ein milder Ausdruck huschte über Hades Gesicht. »Hochzeitspläne«, sagte er dann. »Mirella und Ernesto wollen heiraten.«
Es war nur eine kurze Bemerkung. Doch kein noch so präziser Schlag hätte mich effektiver niederstrecken können.
*
03. Oktober 1911
Viktor ist verhindert, er kann nicht zu Besuch kommen. Ich bemühe mich, ihn zu verstehen. Als Offizier ist er nicht frei in seinen Entscheidungen. Und doch kann ich meine Enttäuschung kaum verbergen. Mein Husten ist schlimmer geworden und die nachmittäglichen Fieber greifen um sich. Doktor Ewald hat von einer neuartigen Kur berichtet, die Linderung verschaffen soll. Sogar Heilung, hat er gesagt, Heilung ist möglich. Er will mir die Spritzen geben, wenn ich es möchte. Ich frage mich, wie gefährlich es ist. Was, wenn ich sterbe? Es ist nicht auszuschließen, sagt der Doktor. Doch sterben werde ich ohnehin, oder etwa nicht? Mama will so etwas nicht hören. Und doch stimmt es. Ich sehe es hier jeden Tag.
Luise sagt, man stirbt hier nicht an Tuberkulose, sondern an Langeweile. Ich glaube, sie hat recht. Und immer nur dieses Rauschen der Kiefern. Luise hat Zigaretten geschmuggelt, vom Männersanatorium jenseits der Straße zu uns. Es muss jemanden geben, der sie gern hat. Warum nur gibt dieser Gedanke meinem Herzen einen Stich? Ich werde wunderlich. Die Kiefern, die Langeweile. Würde ich geheilt, endlich, dann könnte ich zu Viktor. Wir würden heiraten. Ich hätte mein Leben zurück. Und meine Liebe.
Ich ließ das Tagebuch sinken und starrte von meinem Platz auf dem Dach über die Stadt. Selbst in Claras Tagebuch war die Rede vom Heiraten. Ich hatte eigentlich gehofft, die Konzentration auf den rätselhaften Fall würde mich ein wenig ablenken von der Flut an Gedanken, die mich seit Hades‘ Worten am Nachmittag wie ein verletztes Tier vor sich hertrieben. Dass Mirella diesen widerlichen Schnösel tatsächlich heiraten könnte, erschien mir ebenso unglaublich wie unerträglich. Und noch schlimmer war die Furcht, nichts, absolut gar nichts dagegen tun zu können. Ich hatte meine Chance gehabt. Und wie es aussah, hatte ich verloren. Für immer.
Die letzten Sonnenstrahlen spiegelten sich in der Kuppel des Fernsehturms und zeichneten ein breites Kreuz auf die Fläche. Die Architekten der DDR hatten nicht bedacht, dass die Krümmung der Kuppel diesen Effekt erzeugen würde. Und ein sozialistischer Staat, auf dessen Prestigeprojekt in der Hauptstadt sich bei Sonne das urchristliche Symbol des Kreuzes abbildete, war eine unfassbar peinliche Panne gewesen. Geändert hatte man es nicht mehr. Und auch heute noch schwebte das Kreuz über der Stadt wie ein höhnisches Lachen. Nur dass die meisten Berliner es nicht einmal mehr bemerkten. Auch mir, dem Urkreuzberger, fiel es heute seit langem erstmals wieder auf. Vielleicht weil so viele lose Gedankenfäden durch meinen Kopf flirrten, dass sich Unzusammenhängendes hier und dort verhedderte.
Was alles passieren kann, nur weil jemand eine scheinbare Kleinigkeit übersieht, dachte ich und griff nach dem Bier, das ich mit aufs Dach genommen hatte. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Fehler passierten überall und ständig. Niemand war davor gefeit. Was, wenn auch Clara von Rieckhofen Opfer eines Fehlers geworden war? Wenn sie nicht an der Krankheit, sondern an der Behandlung gestorben war? Hatte jemand etwas übersehen? Oder aus übertriebenem Ehrgeiz rücksichtslos gehandelt? Der Wunsch, ein Heilmittel gegen die Tuberkulose zu entwickeln, war mit Sicherheit eine enorme Triebkraft gewesen. Hatte einer der Ärzte seine Befugnisse überschritten? Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann, und senkte meinen Blick zurück auf das Tagebuch.
Doktor Ewald will mit der Behandlung beginnen.
Um welche Art von Behandlung hatte es sich da gehandelt? Was war mit Clara passiert? Sie schrieb nichts darüber und hatte wahrscheinlich selbst nicht gewusst, was genau mit ihr geschehen sollte.
Ich nahm einen weiteren Schluck Bier. Wenn
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