Die dunkle Seite des Weiß
Ich grinste Oliver schief von der Seite an. »Irgendwelche Vorschläge?«
Oliver zuckte mit den Schultern. »Ich kenne den Typen überhaupt nicht. Schätze, da kann ich dir nicht helfen.«
Ich nickte bedächtig, aber meine Gedanken begannen sich im gleichen Augenblick zu überschlagen. Welches Passwort brachte uns in Ernestos Rechner? Im schlechtesten Fall war es eine zufällige Kombination aus Ziffern und Buchstaben, die jeden Tag geändert wurde. Aber irgendwie glaubte ich das nicht. Ernesto war analytisch, aber kein Eisberg. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ein beliebiges Passwort wählte. Die wenigsten Menschen taten das.
Was also war Ernesto wichtig?
Ich atmete tief durch. Dann tippte ich das erste Wort ein, das mir in den Sinn kam.
MIRELLA
Oliver schnaubte leise. »Schließ nicht von dir auf andere.«
Ich ignorierte ihn und drückte die Enter-Taste.
Error.
Passwort inkorrekt.
»Was habe ich gesagt?« Oliver rollte mit den Augen.
»Ist ja gut«, erwiderte ich gereizt. Dann zog eine plötzliche Veränderung auf dem Bildschirm meine Aufmerksamkeit auf sich. »Was ist das?«
Ein kleines Fenster mit einer digitalen Zeitanzeige hatte sich geöffnet. Und diese lief rückwärts.
»Noch 30 Sekunden zur Eingabe des korrekten Passworts«, erklang eine glasklare Frauenstimme aus den Lautsprechern des Computers.
»Scheiße!«
Ich hatte geahnt, dass die innere Abteilung verschärfte Regeln hatte. Nicht so offensichtlich wie ein Todesstreifen. Aber umso fataler. Wir hatten ein Problem.
»Noch 20 Sekunden zur Eingabe des korrekten Passworts.«
»Los, hauen wir ab!« Oliver sprang auf.
»Bringt nichts«, zischte ich. »Zu wenig Zeit.« Ich konnte das Klicken der stählernen Schlösser bereits durch die langen Flure hallen hören. Den automatisch ausgelösten Alarm. Schrillend, ohrenbetäubend.
»Noch 10 Sekunden zur Eingabe des korrekten Passworts.«
Denken. Du musst denken! Doch in meinem Kopf ging alles durcheinander. Ein Wust aus synaptischen Übersprunghandlungen. Das Passwort …
»Mach irgendwas.« Oliver starrte mich an, dann drängte er mich zur Seite und hackte blitzschnell etwas in die Tasten.
»Cuba libre?!« Fassungslos beobachtete ich, wie er Enter drückte.
Error.
Passwort inkorrekt.
»Immerhin 30 Sekunden gewonnen«, keuchte Oliver. »Los, denk nach. Oder meinetwegen erfühl oder ertanz das verdammte Passwort. Aber mach was!«
Ich fühlte den Impuls, laut aufzuschreien. Mein Herz raste.
»Noch 20 Sekunden zur Eingabe des korrekten Passworts.«
Die Hände schweißnass.
15 Sekunden.
10 Sekunden.
Das Passwort!
5 Sekunden.
Ernesto. Was war ihm wichtig? Was war -
Ein Gedanke durchzuckte meinen Kopf.
3 Sekunden.
Meine Finger flogen über die Tasten.
2 Sekunden.
1 Sekunde.
Enter.
Ich schloss die Augen.
Für einige Augenblicke war es vollkommen still. Kein Klicken von einrastenden Türschlössern. Kein schrillender Alarm. Nur Olivers keuchender Atem neben mir.
»Passwort korrekt«, sagte sie weibliche Computerstimme ungerührt. »Zugang gewährt. Guten Morgen, Señor Sanchez.«
Oliver sackte neben mir zusammen. »Verdammt, das war knapp …« Dann huschte ein erleichtertes Grinsen über sein Gesicht. »Nicht schlecht. Mi corazón. Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen. Woher wusstest du es?«
»Glück«, antwortete ich mit rauer Stimme. Mir schlug das Herz noch immer bis zum Hals und jede andere Antwort wäre eine glatte Lüge gewesen. Mi corazón. Ernestos Art, Mirella als Passwort zu nutzen.
Ich hätte erleichtert sein müssen, denn immerhin stand uns jetzt der Zugang zu allen Daten dieses Rechners offen. Doch ich war nicht erleichtert. Im Gegenteil. Mir war kotzübel. Mi corazón … erneut blitzte eine Erinnerung in mir auf. Wie Ernestos Hände an Mirellas Hüfte entlang geglitten waren. Besitzergreifend. Sicher. Viel zu sicher.
Die ganze Zeit hatte ich versucht, mir einzureden, dass es zwischen den Beiden nichts Ernstes war. Selbst als Hades mir die Gerüchte über die Heiratspläne mitgeteilt hatte, wollte ich mir nicht eingestehen, dass ich verloren hatte. Endgültig. Der Gedanke, dass Ernesto nur mit Mirella spielte, war ein verzweifelter Rettungsanker gewesen. Und dumm, wie ich jetzt mit schmerzlicher Härte begriff. Dass Ernesto dieses Passwort benutzte, ließ tief blicken. Mit aller Kraft riss ich mich von den düsteren Gedanken los.
»Beeilen wir uns«, sagte ich zu Oliver. »Wer weiß, was die innere Abteilung noch an Überraschungen
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