Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
Sie wirklich nicht lange aufhalten.«
»In einer halben Stunde erst. Vivian, meine vierte Enkeltochter. Sie studiert hier in Heidelberg. Lehrerin will sie werden, am Gymnasium. Sie ist eine ganz Liebe, die Vivian. Schon, wie sie noch klein war, ist sie so ein liebes Schnuckelchen gewesen. Hat den Eltern immer nur Freude gemacht, die Vivian. Aber keine Sorge, meistens kommt sie sowieso zu spät.«
Sie beobachtete mich durch ihre dicken Brillengläser, als wäre ich ein soeben neu entdecktes Reptil, fragte, ob ich Kaffee wollte und vielleicht auch ein Stückchen vom Streuselkuchen. Beides mochte ich natürlich nicht ablehnen. Als ich den Kuchen ordentlich lobte, taute sie weiter auf und ließ mich auch einmal länger als zwei Sekunden aus den Augen.
»Der Herr Boll, ja«, sagte sie sehr langsam, als sie ihre zierliche Tasse mit spitzen Fingern abstellte. »Er war ein … hm … Ein schwieriger Mensch war er.«
»Wissen Sie, warum er damals Hals über Kopf ausgeschieden ist?«
»Um eine rumänische Einbrecherbande ist es gegangen.« Sie hob das Tässchen wieder an, nippte konzentriert an ihrem Kaffee, stellte es wieder ab. »Einige Tage vorher waren sie festgenommen worden, die Rumänen. Fünf Männer, alle bewaffnet. Zum Glück ist nichts passiert. Sie haben den ganzen Keller voll gehabt mit Videorekordern und teuren Stereogeräten und so weiter. Ist ja eine schreckliche Plage gewesen, mit den Rumänen, damals nach der Wende. In einem abgelegenen Bauernhaus zwischen Ladenburg und Ilvesheim hatten sie ihren Unterschlupf. Und von der Beute, von der soll später einiges gefehlt haben.«
»Und man hat vermutet, dass Boll hinter dieser Unterschlagung steckte?«
Sie nickte vorsichtig und blinzelte mich kurzsichtig an. Nickte noch einmal.
»Der Herr Wilhelmi hat aber keinen Skandal gewollt. Es ist damals sowieso viel auf uns herumgehackt worden in den Zeitungen. War eine schlimme Zeit. Der Sprengstoffanschlag auf die neue JVA in Weiterstadt, Bad Kleinen … und bei uns war auch das eine oder andere schiefgelaufen. Drum hat der alte Chef dem Herrn Boll angeboten, wenn er alles komplett zurückgibt, was er zur Seite geschafft hat, und von sich aus kündigt, dann wird er die Sache unter der Decke halten. Und so haben sie es dann auch gemacht.«
»Ich nehme an, es war nicht das erste Mal, dass Boll unangenehm aufgefallen ist.«
Wieder blinzelte sie. »Ja«, erwiderte sie dann leise. »Da haben Sie vollkommen recht. Wie gesagt, er war ein schwieriger Mensch. Aber ich habe dem alten Chef damals versprechen müssen, dass ich den Mund halte. Möchten Sie vielleicht noch ein Stück vom Kuchen?«
Ich schob meinen Teller über den Tisch. »Gerne. Er schmeckt wirklich ausgezeichnet.«
»Das macht die Sahne«, erklärte sie ernst. »Ich tu immer einen ordentlichen Schuss fest geschlagene Sahne in den Teig.«
»Was aus Boll später geworden ist, wissen Sie nicht?«
»Doch. Er hatte zwei Jahre vorher ein Haus geerbt, irgendwo im Odenwald. Seine Eltern waren kurz nacheinander gestorben. Der Vater an Krebs, meine ich. Und die Frau ein halbes Jahr später …«
Die Wohnungstür flog auf. »Hi, Omi!«, rief eine atemlose Mädchenstimme. »Bin bisschen spät, sorry.«
»Jetzt weiß ich wieder, bei ihr war es ein Herzinfarkt«, beendete Juliette Baldwin mit strahlendem Lächeln unsere gemütliche Unterhaltung und sprang auf, als wäre sie nicht auch selbst weit jenseits der Siebzig.
Während des kurzen Spaziergangs zurück zu meiner warmen Wohnung regnete es immer noch, auch wenn das Schlimmste schon vorüber war. Kurz bevor ich zu Hause war, rief Sönnchen an.
»Wir haben’s rausgekriegt, Herr Gerlach. Boll wohnt in Weiten-Gesäß.«
»Frau Walldorf, auch wenn ich krank bin, finde ich, habe ich als Ihr Chef doch ein bisschen Respekt verdient …«
»Das Dorf heißt nun mal so, ’tschuldigung. Ist ein Ortsteil von Michelstadt. Da ist er auf die Welt gekommen und aufgewachsen, und jetzt lebt er wieder da. In seinem Elternhaus.«
»Und wovon lebt er?«
»Im Melderegister steht bloß: Selbstständig.«
»Dann hat er wahrscheinlich Telefon.«
»Wahrscheinlich. Obwohl viele heutzutage ja nur noch Handys haben. Im Telefonbuch ist er jedenfalls nicht zu finden und im Internet komischerweise auch nicht.«
Ein Selbstständiger ohne Internetauftritt?
»Das muss ja eine merkwürdige Beschäftigung sein, mit der der Mann sein Geld verdient.«
Ich musste zwischen zwei parkende Autos treten, da ein vielleicht zweijähriges,
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