Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
Flusen und Krümel und ein Kugelschreiber mit dem Werbeaufdruck einer Apotheke. Daneben hing eine Windjacke, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatte. Dort fand ich das Portemonnaie der alten Dame. Es enthielt knapp fünfzig Euro überwiegend in Scheinen, ihren Personalausweis, der sogar noch gültig war, eine EC-Karte von der Sparda-Bank. Kein Zettel mit einer Telefonnummer, die im Notfall anzurufen war, keine vergessene Visitenkarte, kein Adressbüchlein. Wie konnte ein Mensch so einsam leben?
Ich betrat das zweite Zimmer der Wohnung, das als Wohnraum und – wenn man so wollte – Arbeitszimmer gedient hatte. Hier war es lausig kalt und überraschend aufgeräumt. An der Längswand stand ein altertümliches moosgrünes Plüschsofa mit stilistisch perfekt dazu passendem Eichentisch, mitten im Raum ein verschlissener Ohrensessel, der wirkte, als stammte er aus einer Theaterrequisite des vorvorigen Jahrhunderts. Am Fenster ein kleiner Schreibtisch, auf dem sich Unerledigtes und Vergessenes türmte. An der Wand gegenüber dem Sofa ein Regal, vollgestopft mit Büchern. Ich überflog die Titel. In erster Linie Romane der modernen Klassik, dazwischen Künstlerbiografien, Memoiren bekannter und weniger bekannter Schauspieler. Darüber ein nachlässig gerahmter Kunstdruck. Traurig verblasste Sonnenblumen von van Gogh. Nirgendwo ein Fernseher, fiel mir auf.
Eine Staubschicht auf allem machte deutlich, dass dieser Raum lange nicht genutzt worden war. Die Luft war stickig und trocken, die Temperatur nicht weit über dem Gefrierpunkt.
Lustlos kramte ich in den Papierstapeln auf dem Schreibtisch. Werbung, weitere Arzt- und Laborrechnungen, Mahnungen, abgestempelte Rezepte mit schwindelerregenden Beträgen darauf. Dazwischen immer wieder Kontoauszüge. Auch hier nichts Persönliches, kein Notizbuch mit Adressen oder Telefonnummern, nichts.
Es klopfte lautstark an der Wohnungstür. Die grauen Männer mit dem Zinksarg waren da.
Unser Abend war ein einziges Fest aus Gelächter und Geblödel, aus Sekt und funkensprühender Zärtlichkeit und atemlosem Sex. Der Misserfolg ihres Buchs schien zentnerschwer auf Theresas Autorinnenseele gelastet zu haben.
»So ist es seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen«, stellte ich fest, als wir endlich verschwitzt, betrunken und zu einem unlösbaren Knoten verschlungen auf unserer Matratze zur Ruhe kamen.
»So kann es nicht immer sein«, schnurrte sie unendlich zufrieden. »Man würde verrückt werden davon.«
»Und die Nachbarn vermutlich auch.«
Über uns improvisierte wieder der Saxophonist, der heute ebenfalls sehr viel besser gelaunt zu sein schien als beim letzten Mal.
Theresas heiße Rechte war schon wieder auf dem Weg nach unten. Ich hielt sie fest. Sie kicherte wie ein übermütiger Teenager, gab endlich Ruhe. Ich erzählte ihr von Nils Hedin und seiner unglücklichen Liebe. Einer Liebe, die ihn selbst drei Jahrzehnte nach Vickys Tod immer noch in den Klauen hielt.
»Wenn man Pech hat«, philosophierte meine erschöpfte Göttin, »dann ist Liebe das Schlimmste und Gemeinste, was einem das Leben antun kann. Wenn sie nicht gestorben wäre, dann wäre er wahrscheinlich nach einiger Zeit froh gewesen, sie loszuwerden.«
19
Als ich am Donnerstagmorgen beim Frühstück saß, dachte ich über die beiden Paare in Neuenheim nach, deren buntes Zusammenleben so grauenvoll geendet hatte. Wie oft war ausgerechnet die Liebe, das Schönste und Größte, was uns das Leben zu bieten hat, Anlass für Mord und Totschlag? Wie oft gingen Beziehungen und Existenzen in Trümmer, weil der Mensch zur Treue nicht gemacht ist? Wie oft schlug das größte Glück in ein noch größeres Unglück um? Die Literatur der Welt quoll über von diesen uralten und immer wieder neuen Geschichten.
Ich genoss die Minuten der Ruhe vor Tagesbeginn. Das Radio spielte leise Musik. Die Zwillinge hatten wieder einmal erst zur zweiten Stunde Unterricht und lagen noch in ihren Betten. Ich schlürfte meinen Cappuccino und sah zu, wie sich der Himmel vor den Fenstern allmählich rosa färbte. Offenbar sollte ausnahmsweise wieder ein schöner Tag werden. Natürlich dachte ich auch an Theresa, lächelte in mich hinein. Heute war der neunzehnte Februar. Nur noch gut vier Wochen bis zum Frühlingsanfang. Im Radio spielten die Dire Straits Brothers in Arms . Ich drehte es lauter, setzte mich wieder an den Tisch. Lange hatte mir kein Cappuccino so gut geschmeckt.
Bald würden die ersten warmen Tage kommen, die Terrassen in der
Weitere Kostenlose Bücher