Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
kälter, als sie erwartet hatte, und das graue Pilgerkleid wärmte weniger, als es ihre wollene Dalmatika getan hätte.
An den nächsten Tagen zwang sie sich, auch dann weiterzugehen, wenn ihre Füße bluteten. Sie wurde so schwach, dass sie immer öfter strauchelte und bisweilen sogar das Gleichgewicht verlor und zu stürzen drohte, doch sie hielt durch. Beim Waschen und bei allem, was mit Körperfunktionen zu tun hatte, achtete sie streng darauf, sich von den anderen fernzuhalten, und alle achteten dieses Bestreben, denn niemand wollte einen Eunuchen in Verlegenheit bringen.
Im Laufe der Zeit litten alle unter den Strapazen, den Blasen an den Füßen, der Kälte von Wind und Regen und darunter, dass die Glieder nach auf hartem Lager verbrachten Nächten mit zu wenig Schlaf schmerzten. Das ganze Land schien aus Steinen und Staub zu bestehen, die wenigen
knorrigen Bäume waren vom beständig wehenden Wind gebeugt, und auf langen Strecken gab es kein Trinkwasser außer dem, das sie mit sich führten.
Sie bemühte sich, Giuliano nicht anzusehen. Ihr war klar, warum der Doge jemanden ausschickte, der nicht nur bis Akko segeln, sondern auch über Land ziehen sollte, wie es auch das Heer der Kreuzfahrer würde tun müssen. Sicherlich hatte er den Auftrag, die Befestigungsanlagen Jerusalems zu begutachten, sich deren Schwächen und Stärken einzuprägen, festzustellen, was sich an ihnen geändert hatte, seit zum letzten Mal Heere aus dem Westen dort waren. Venedigs Aussichten auf Gewinn hingen unmittelbar von Erfolg oder Scheitern des Kreuzzugs ab.
Sie wollte gar nicht wissen, ob ihm dieser Gedanke ebenso zuwider war wie ihr. Ein Venezianer musste die Dinge wohl anders sehen als sie.
Unwillkürlich warf sie einen raschen Seitenblick auf Giuliano und merkte, dass er sie mit einem unendlich freundlichen Lächeln unverwandt ansah. Einen schrecklichen Augenblick lang nahm sie an, er habe den wahren Grund ihrer körperlichen Schwäche erkannt, dann aber begriff sie, dass er verstanden hatte, welche Gedanken ihr durch den Kopf gingen.
Sie erwiderte sein Lächeln und merkte überrascht, wie sehr sich ihre Seele durch das Bewusstsein seiner Nähe erhoben fühlte.
KAPİTEL 60
Fünf Tage später erreichten sie mit schweren Beinen und am Rande der Erschöpfung eine Anhöhe, von der aus sie die Hügel Jerusalems sehen konnten. Alle von der Sonne beschienenen Mauern waren leuchtend weiß, die Gassen zwischen ihnen schwarz, fast wie Messerschnitte. Hier und da unterbrach die Rundung einer Kuppel oder ein plötzlich aufragender steiler Turm das Meer der flachen Dächer.
Es gab nur wenige Bäume, überwiegend Ölbäume mit silbriggrauen Blättern oder Dattelpalmen. Umschlossen wurde die Stadt von einer sich lang hinziehenden, mit Zinnen bewehrten Mauer, durch deren offene Tore bunte Farbflecke, winzig wie Ameisen, kamen und gingen.
Anna, die neben Giuliano stand, stieß unwillkürlich einen leisen Laut des Erstaunens aus. Sie sah rasch zu ihm hin und erkannte in seinen Augen, dass er Ähnliches empfinden musste wie sie.
Auf ein ungeduldiges Zeichen ihres arabischen Führers hin zogen sie dem Jaffa-Tor entgegen, durch das Pilger die Stadt gewöhnlich betraten. Je näher sie ihr kamen, desto gewaltiger wirkten die Mauern, die deutliche Spuren von Zeit, Erosion und Belagerung trugen.
Vor der Toranlage, die beinahe wie eine riesige Burg war, drängten sich bärtige Männer mit dunklen Augen und staubbedeckten Gewändern. Sie redeten mit weit ausholenden Handbewegungen aufeinander ein, und es war unklar, ob sie miteinander stritten oder um einen Preis feilschten. Kinder spielten mit Steinchen, die sie hochwarfen und mit dem Rücken ihrer schmalen braunen Hand wieder auffingen. Eine Frau klopfte einen Teppich aus, wobei eine
dichte Staubwolke aufstieg. All das war ganz alltäglich und gewöhnlich.
Im nächsten Augenblick schon holte die eigene Wirklichkeit die Pilger ein. Jeder musste vor Einbruch der Dunkelheit ein Nachtquartier finden, und so verabschiedeten sich Giuliano und Anna von ihren Reisegefährten. Dabei empfand sie ein leises Bedauern, denn nach so vielen gemeinsam ertragenen Strapazen fiel ihr der Abschied nicht leicht.
Die Sicherheit, welche die Reise in der Gruppe für sie bedeutet hatte, war vorbei, wenngleich mit ihr auch die Gefahr zu großer Nähe, bei der die Möglichkeit bestanden hatte, körperliche Schwäche oder Empfindungen zu zeigen. Jetzt begann eine andere Art der Einsamkeit.
Sie und Giuliano fanden
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