Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
denn sie fürchtete beständig, man werde ihn überfallen. Da sie so angespannt war, dass sie nicht stillsitzen konnte, ging sie unruhig im Zimmer auf und ab. Fünfmal hörte sie
Schritte vor der Tür und glaubte, es sei Giuliano. Jedes Mal stellte sie sich mit bangem Herzen dicht vor die Tür und lauschte, doch sie gingen vorüber, und erneut trat Stille ein. Einmal klopfte jemand. Sie wollte schon den Riegel zurückschieben, als ihr der Gedanke kam, dass das gefährlich sein konnte. Daher blieb sie regungslos stehen. Durch die Tür hörte sie, wie jemand heftig atmete.
Dann dröhnte es, als habe sich jemand mit seinem ganzen Gewicht dagegengeworfen. Lautlos trat sie zurück. Ein weiteres Dröhnen ertönte, diesmal deutlich stärker. Die Tür zitterte in ihren Angeln.
Sie hörte Stimmen, dann rasche Schritte. Gleich darauf blieb wieder jemand vor der Tür stehen.
»Anastasios!« Es war Giulianos Stimme, in der unüberhörbar Furcht mitschwang.
Erleichterung durchflutete sie. Als sie den Riegel öffnen wollte, merkte sie, dass der gegen die Tür ausgeübte Druck ihn verklemmt hatte. Sie warf sich dagegen, bis er schließlich nachgab.
Giuliano trat ein und schob den Riegel sogleich wieder vor. Er hatte ein großes Kleiderbündel mitgebracht, teils für sie, teils für sich selbst. »Wir müssen noch heute von hier fort«, sagte er leise. »Zieht das an. Ich werde mich als Kaufmann verkleiden und mich als Armenier auszugeben versuchen.« Er zuckte die Achseln. »Zumindest kann ich Griechisch sprechen.« Er legte sein graues Pilgergewand ab.
Hatte er die Absicht, sie doch noch ein Stück zu begleiten? Sie nahm die Frauenkleider und kehrte ihm den Rücken zu, um sich umzuziehen. Wenn sie sich jetzt schamhaft zeigte, würde sie nur sein Misstrauen wecken. Sofern sie sich rasch genug umzog, war es möglich, dass er nichts merkte, weil er selbst mit Umkleiden beschäftigt war.
Er hatte ihr ein schlicht geschnittenes weinrotes Wollkleid mitgebracht, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Sie streifte es sich mit einer Leichtigkeit über, welche die Jahre der Verstellung schwinden ließ wie Staub im Wind. Sie richtete ihre Haare wie die einer Frau, legte das Obergewand aus dunklerer Wolle an und ordnete es mit anmutigen Bewegungen, die sie sich mit so großer Mühe abgewöhnt hatte.
Er sah sie an. Nach einem Augenblick der Sprachlosigkeit trat ein Ausdruck schmerzlicher Überraschung auf seine Züge. Er gab ihr das Bild zu halten und öffnete vorsichtig die Tür, die Rechte am Griff seines Dolches. Nachdem er in alle Richtungen gespäht hatte, bedeutete er ihr mit einem Nicken, dass sie ihm folgen solle.
Auf der Straße wandte er sich sofort nordwärts und schritt kräftig aus. Sie hielt den Blick gesenkt und achtete darauf, keine großen Schritte zu machen. Sie genoss die kurze Freiheit, wieder Frau sein zu dürfen, als handele es sich um ein gefährliches Entkommen, das bald wieder enden musste.
Sie gingen rasch und hielten sich, soweit das möglich war, an die belebteren Straßen. Jerusalem war nicht besonders groß, und schon bald gelangten sie in die Nähe des Damaskus-Tores, von wo aus eine Straße nach Nordwesten führte. Rechts von ihnen erhob sich der Tempelberg.
Einmal wurden sie angesprochen, und Giuliano blieb lächelnd stehen, die Hand am Gürtel. Der Mann, ein Reliquienverkäufer, nahm an, dass er nach seinem Geldbeutel griff, doch es war Anna klar, dass er die Hand am Griff eines Dolches hatte.
»Nein, danke«, sagte er knapp, fasste sie am Arm und eilte weiter.
Seine Hand fühlte sich warm an, und er hielt sie fester, als er es wohl bei einer Frau getan hätte. Sie bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten, und sah sich kein einziges Mal um, um niemandes Aufmerksamkeit zu erregen.
Am Damaskus-Tor drängten sich Händler, Kameltreiber und eine Anzahl in das übliche Grau gekleideter Pilger. Unwillkürlich verlangsamte sie den Schritt, doch Giuliano griff fester nach ihr und zog sie mit sich.
Spürte er ihre Angst oder ihren zarten Knochenbau und stellte sich Fragen? Sie wussten so viel voneinander, von ihren Träumen und Überzeugungen, und doch so wenig. Alles war von Mutmaßungen und Lügen durchwoben. Wahrscheinlich kamen die Lügen alle von ihr.
Sie drängten sich durch die Menge am Tor, dann waren sie außerhalb der Stadtmauer. Nach etwa zweihundert Schritten, es ging inzwischen leicht bergab, blieb Giuliano stehen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt.
»Ja«, sagte sie.
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