Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Mauerkrone. Man muss sich in einem Korb hochziehen lassen.«
»Wirklich?«, fragte er mit Staunen in der Stimme. »Ich hatte das zwar auch schon gehört, aber für ein Märchen gehalten. «
Sie lächelte und senkte den Blick. »Ich habe auch den ›Brennenden Dornbusch‹ gesehen. Er ist nach wie vor da und sieht aus wie jeder andere Busch, nur dass er nicht so ist.«
»Wieso?«, fragte er.
»Ich denke, ich weiß das, weil mir ein Mönch gesagt hat, ich solle meine Schuhe ausziehen, da ich auf heiligem Boden stünde.«
Er lachte, und die Anspannung seiner Schultern löste sich. Erst in diesem Augenblick begriff sie, wie verlegen er gewirkt hatte, wie wenig selbstsicher. Sie musste an ihren Abschied vor Golgatha denken, und sie begriff, dass sich etwas geändert hatte. Sie wollte nicht verstehen, was es war, weil darin ein Schmerz lag, dem sie sich nicht aussetzen wollte.
KAPİTEL 65
»Nun?«, erkundigte sich Simonis, als Anna endlich zurück war, sich gewaschen hatte und ausgeruht in sauberer Kleidung am Tisch saß, vor sich eine heiße Suppe und frisches Brot. »Was habt Ihr über Euren Bruder in Erfahrung gebracht? Euer Gesicht sagt mir, dass er lebt. Was könnt Ihr mehr über ihn sagen? Wann kommt er zurück?«
Anna hatte weder ihr noch Leo etwas über das Bild gesagt, das sie für Zoe geholt hatte, und so hatten beide angenommen, die ganze Reise habe den Zweck gehabt, etwas über Ioustinianos zu erfahren.
»Ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen«, begann Anna. »Er ist schmaler, scheint aber bei guter Gesundheit zu sein.«
»Esst Eure Suppe«, mahnte Simonis. »Was hat er gesagt?«
»Er hat mir gesagt, was geschehen ist«, gab sie zur Antwort und nahm etwas von der verlockend duftenden Suppe, denn ob sie aß oder nicht, würde nichts an dem ändern, was sie zu sagen hatte. »Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Dinge mehr oder weniger so verhalten, wie ich es zuvor schon angenommen hatte …«
»Davon habt Ihr uns aber nichts gesagt«, sagte Simonis vorwurfsvoll und mit finsterer Miene. Die Enttäuschung der Dienerin war unverkennbar.
Leo legte Simonis sanft die Hand auf den Arm, um sie zur Zurückhaltung zu mahnen.
Sie schüttelte die Hand ab und sah unverwandt zu Anna hin. »Und wie wollt Ihr seine Schuldlosigkeit beweisen?«, fragte sie.
»Gar nicht«, sagte Anna geradeheraus. »Er hat Bessarion getötet …«
»Das ist unmöglich!«, stieß Simonis wütend hervor. »Nicht Euer Bruder. Ja, wenn es um Euch ginge, Ihr hättet womöglich …«
»Schluss jetzt!«, sagte Leo. »Du lässt dich gehen.«
Simonis errötete beschämt.
Auch Anna schien von ihrem Ausbruch überrascht. »Danke, Leo«, sagte sie. »Die Geschichte ist ganz einfach, und jetzt, da ich die näheren Umstände aus Ioustinianos’ eigenem Mund erfahren habe, will ich sie Euch erzählen. «
Mit knappen Worten berichtete Anna den beiden die Zusammenhänge, ohne auf Einzelheiten einzugehen.
Simonis wirkte bedrückt und starrte schweigend vor sich hin.
»Ihr müsst Euch unbedingt nach den Worten Eures Bruders richten«, sagte Leo besorgt. »Niemand darf erfahren, dass Ihr diese Umstände kennt, sonst wird man Euch gleichfalls vernichten.«
Auch Simonis sah Anna an, doch erwartete sie, dass Anna etwas unternahm. »Ihr müsst zum Kaiser gehen und ihm die Namen der anderen Verschwörer sagen«, forderte sie Anna auf. »Ihr sagt, dass Ihr mit Eurem Bruder gesprochen
und er Euch die Namen genannt hat. Dann wird ihm der Kaiser die Freiheit schenken.«
»Das kann ich nicht«, betonte Anna. »Man hat damals versucht, ihm die Namen unter der Folter abzupressen, doch er hat geschwiegen. Nachdem er diesen hohen Preis bezahlt hat, kann ich unmöglich …«
Simonis schrie sie an: »Männer sind Dummköpfe. Sie halten Leuten, die sie verraten haben, sogar dann noch die Treue, wenn es keinen Sinn mehr hat. Ihr müsst das für ihn tun. Oder geht es hier jetzt nur um Eure Ehre?« Simonis schien fast an ihren Worten zu ersticken. »Er sitzt in der Wüste gefangen, nachdem man ihn gefoltert hat, und Ihr baut Euch hier in Konstantinopel eine immer größere Praxis auf, mästet Euch, geht in Seide, wollt aber die Ehre nicht beflecken, die Ihr zu haben glaubt. Damals in Nikaia hat es Euch nichts ausgemacht, mit Euren Fehlern seine ganze Zukunft aufs Spiel zu setzen, nicht wahr? Oder wollt Ihr das lieber vergessen? Denn all das wäre nicht passiert, wenn Ihr damals ehrlich gewesen wäret. Er wäre jetzt Arzt und Ihr nicht. Wo war damals
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