Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Zukunft verlassen konnten. Wer gehorche, dem sei nichts unmöglich, ganz gleich, wie schwierig die Umstände scheinen mochten.
Worauf bezog er sich wohl mit diesen Worten? Auf die Bedrohung, die ein Zusammenschluss mit Rom für die byzantinische Kirche bedeutete, oder auf die Gefahr eines erneuten Überfalls durch Kreuzfahrer für den Fall, dass man sich dieser Union verweigerte? Musste man dann damit rechnen, dass die Lateiner so gewalttätig und blutrünstig wie beim vorigen Mal wiederkehrten?
Als die letzten Töne des Gesangs verklungen waren und sie sich zum Gehen wandte, kam ihr voll Entsetzen zu Bewusstsein, welch groben Fehler sie begangen hatte. Sie war den Frauen mechanisch und aus alter Gewohnheit auf die Empore gefolgt, doch alle Welt wusste, dass sie ausschließlich ihnen vorbehalten war und ein Eunuch dort nichts verloren hatte. Was nur konnte sie tun, um aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen? Kalter
Schweiß brach ihr aus und ließ sie zittern. Sie schämte sich zutiefst.
Mit Schleiern vor dem Gesicht zogen die Frauen gesenkten Blicks an ihr vorüber. Keine wandte sich zu ihr um, wie sie so dastand und sich am Geländer festhielt, weil sie das Gefühl hatte, als könnten ihre Beine sie nicht mehr tragen. Sie musste unbedingt einen Vorwand für ihre Anwesenheit dort finden, aber welchen? Nichts konnte sie rechtfertigen.
Eine alte Frau mit bleicher Haut und welkem Gesicht blieb neben ihr stehen. Großer Gott, wollte sie womöglich eine Erklärung von ihr haben? Ihr Gesicht wurde aschfahl. Und wenn sie jetzt in Ohnmacht fiel und damit die Aufmerksamkeit aller auf sich zog?
Die Alte schwankte und hustete heftig, wobei ihr Blut auf die Lippen trat.
Blitzartig kam Anna die Erleuchtung. Sie legte ihren Arm um sie und drückte sie sanft auf die Stufen nieder. »Ich bin Arzt«, sagte sie freundlich. »Ich helfe Euch und bringe Euch nach Hause.«
Eine jüngere Frau wandte sich um und kam die Treppe empor, als sie die beiden sah.
»Ich bin Arzt«, erklärte Anna rasch. »Ich habe gesehen, dass es ihr nicht gutgeht, und bin rasch emporgeeilt, um ihr beizustehen. Ich bringe sie nach Hause.« Sie half der Alten auf die Beine, legte ihr erneut den Arm um die Schulter und nahm einen großen Teil ihres Gewichts auf sich. »Kommt, Mütterchen«, ermunterte sie sie. »Sagt mir, wohin wir gehen müssen.«
Mit einem Lächeln und einem billigenden Nicken machte die junge Frau ihnen den Weg frei.
Trotz ihrer Erleichterung zitterte Anna noch, als sie nach Hause zurückkehrte. Simonis sah sie besorgt an. Sie merkte
sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, aber Anna schämte sich ihrer Dummheit zu sehr, als dass sie ihr gestanden hätte, worum es ging.
»Habt Ihr etwas Neues herausbekommen?«, erkundigte sich Simonis, während sie einen Teller mit Brot und Schnittlauch sowie einen Becher Wein auf den Tisch stellte.
»Noch nicht«, gab Anna ruhig zurück.
Simonis sagte nichts, aber ihre Blicke sprachen für sich selbst. Schließlich waren sie nicht nach Konstantinopel gezogen, damit Anna hundert Meilen von zu Hause entfernt eine neue medizinische Praxis eröffnen konnte. Simonis vertrat die Ansicht, dass die in Nikaia in jeder Hinsicht zufriedenstellend gewesen war. Der einzige Grund, der es rechtfertigte, sie wie auch die Stadt und die Freunde zu verlassen, die sie von klein auf gekannt hatten, war der, Ioustinianos zu retten. Immerhin setzten sie alle drei dabei ihr Leben aufs Spiel.
»Umhang und Tunika sind sehr gut«, sagte Simonis. »Herzlichen Dank. Offenbar habt Ihr neue Patienten. Solche mit viel Geld.«
Anna erkannte die Missbilligung der Dienerin an ihrer steifen Körperhaltung und der Art, wie sie so tat, als konzentriere sie sich darauf, Senfkörner für eine Fischsoße im Mörser zu zerstampfen.
»Dass sie reich sind, hat sich zufällig so ergeben«, teilte sie ihr mit. »Entscheidend ist, dass sie Ioustinianos und die anderen im Umkreis um Bessarion gekannt haben. Von ihnen erfahre ich etwas über die Freunde meines Bruders und, wer weiß, vielleicht auch etwas über Bessarions Feinde.«
Rasch hob Simonis den Blick. Ihre Augen leuchteten. Mehr als ein flüchtiges Lächeln wagte sie nicht, für den Fall, dass ihre Zuversicht das Verderben herbeirief und alles
zunichtemachte. »Gut«, sagte sie mit einem Nicken. »Ich verstehe.«
»Dir gefällt es hier nicht besonders, nicht wahr?«, fragte Anna leise. »Ich weiß, dass dir deine alten Bekannten fehlen. Mir geht es ebenso.«
»Es muss
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