Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
Haare hatte sie straff aus dem rundlichen Gesicht zurückgekämmt. Hektisch und mit mühsam gebändigter Energie wanderte sie im Zimmer auf und ab, wobei sie unentwegt an ihren Fingernägeln kaute, bis sie zu bluten begannen.
»Er hat ihn entführt, nicht wahr?«, sagte sie immer wieder, ihre Stimme schrill vor Panik. »Er hat meinen Richie entführt, und er hat ihn umgebracht!«
Logan schüttelte den Kopf. »Das können wir noch nicht wissen. Ihr Sohn könnte auch einfach nur die Zeit vergessen haben.« Wieder ließ er den Blick über die mit Fotos gepflasterten Wände wandern und versuchte eines zu finden, auf dem das Kind wirklich glücklich aussah. »Wie lange vermissen Sie ihn schon?«
Sie hielt inne und starrte ihn an. »Drei Stunden! Das habe ich der da doch schon gesagt!« Sie fuchtelte mit der Hand in Constable Watsons Richtung. »Er weiß doch, dass ich mir Sorgen um ihn mache! Er würde nie zu spät kommen! Ganz bestimmt nicht.« Ihre Unterlippe zitterte, und erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Warum sind Sie nicht da draußen und suchen nach ihm?«
»Wir haben Funkstreifen und Beamte ausgeschickt, die in diesem Moment damit beschäftigt sind, Ihren Sohn zu suchen, Mrs. Erskine. Aber jetzt müssen Sie mir erzählen, was heute Morgen genau passiert ist. Wann haben Sie ihn zum ersten Mal vermisst?«
Mrs. Erskine wischte sich mit dem Ärmel über Augen und Nase. »Er sollte … er sollte gleich nach dem Einkaufen zurückkommen. Milch und eine Packung Schokokekse … Er sollte doch gleich wieder nach Hause kommen!«
Sie begann wieder im Wohnzimmer auf und ab zu gehen, hin und her, hin und her.
»Wo sollte er die Sachen kaufen?«
»Im Laden direkt gegenüber der Schule. Das ist ganz in der Nähe! Normalerweise lasse ich ihn nie allein aus dem Haus, aber ich musste hier bleiben!« Sie schniefte. »Es sollte jemand kommen, um die Waschmaschine zu reparieren. Die wollten mir keinen genauen Zeitpunkt nennen! Bloß irgendwann im Lauf des Vormittags. Sonst hätte ich ihn nie allein aus dem Haus gelassen!« Sie biss sich auf die Unterlippe, und ihr Schluchzen wurde heftiger. »Es ist alles meine Schuld!«
»Haben Sie eine Freundin oder eine Nachbarin, die bei Ihnen bleiben könnte …«
Watson deutete in Richtung Küche, aus der in diesem Moment eine verbraucht wirkende ältere Frau trat, die ein Tablett mit Teegeschirr trug. Nur zwei Tassen – von den Polizisten wurde offenbar nicht erwartet, dass sie zum Tee blieben; sie sollten sich gefälligst aufmachen und nach dem verschwundenen Fünfjährigen suchen.
»’ne Schande ist das, ’ne Affenschande«, sagte die ältere Frau, während sie das Tablett mit dem Tee auf einem Stapel Cosmopolitan auf dem Couchtisch abstellte. »Dass so ein Perverser frei rumläuft! Die müssten alle hinter Schloss und Riegel sitzen! Ist ja nicht so, als hätten wir hier nichts Geeignetes in der Nähe!« Sie meinte Craiginches, das von hohen Mauern umgebene Gefängnis, das ganz in der Nähe des Erskine-Hauses lag.
Elisabeth Erskine nahm eine große Tasse Tee mit Milch aus den Händen ihrer Freundin entgegen. Dabei zitterte sie so stark, dass etwas von der heißen Flüssigkeit über den Rand der Tasse schwappte. Sie sah zu, wie die Tropfen in den hellblauen Teppich sickerten.
»Sie, äh …« Elisabeth hielt inne und zog die Nase hoch. »Sie haben nicht zufällig ’ne Zigarette für mich? Ich … ich hab aufgehört, als ich mit Richie schwanger war …«
»Tut mir Leid«, antwortete Logan. »Ich musste auch aufhören.« Er drehte sich um und nahm das dem Anschein nach neueste Foto vom Kaminsims. Ein ernsthafter kleiner Junge, der in die Kamera starrte. »Dürfen wir das mitnehmen?«
Sie nickte, worauf Logan das Bild Constable Watson übergab.
Fünf Minuten später standen sie in dem winzigen Garten hinter dem Haus und drängten sich unter ein lächerlich kleines Vordach, das über der Hintertür angebracht war. Das handtuchgroße Rasenquadrat verschwand rapide unter einem sich ausbreitenden Netzwerk von Pfützen. Schätzungsweise ein Dutzend Kinderspielzeuge lagen verstreut im Gras, bunte Plastikformen, vom strömenden Regen sauber gewaschen. Von der anderen Seite des Zaunes starrten ihn die Nachbarhäuser an, grau und triefnass.
Torry war nicht das allerübelste Viertel der Stadt, aber es rangierte zumindest in den Top Ten. Hier standen Aberdeens Fischfabriken. Jede Woche wurden hier Tonnen von Weißfisch angeliefert, der komplett von Hand ausgenommen und
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