Die dunklen Wasser von Arcachon
Noch ehe der erste Stein für Nautilus überhaupt gelegt ist, fließen schon Aufwandsentschädigungen und Sitzungsgelder in Millionenhöhe.
Kirchner erfuhr, dass die Investoren schon weit damit gekommen waren, die Grundbesitzer in Gujan-Mestras aufzukaufen, aber viele der Austernzüchter und Fischer verweigerten sich noch immer.
In zwei Monaten würde die Präfektur in Bordeaux ihren neuen Entwicklungsplan für die Region vorstellen, von dem für die Zukunft des Nautilus -Projekts viel abhing. Im besten Fall, und im schlimmsten für die widerständigen Bewohner von Gujan-Mestras, würde der Präfekt entscheiden, große Flächen am Wasser, die jetzt noch der Austernzucht zugewiesen waren, umzuwidmen, wie das in der Amtssprache hieß, und für »sonstige Nutzung« freizugeben. Sollte das tatsächlich der Fall sein, wären die Nautilus -Leute so gut wie am Ziel ihrer Träume angekommen.
Da draußen ist ein Wettlauf in Gang, dachte Kirchner , das erklärte die Aggression, auf die er allerorten stieß . Es ist viel Dampf in diesem Kessel, und vielleicht ist Lacombe das Ventil, an dem sich der Überdruck entladen hat.
Der Blackberry klingelte mit der Melodie der Marseillaise.
Pelleton war am Apparat: »Antoine, ich verbinde dich jetzt mit Muriel Rayon. Du kennst sie noch nicht, sie ist eine neue reizende Kollegin, sie hat etwas für dich, sei nett zu ihr.«
Nach zweimaligem Knacken hatte Kirchner die Frau in der Leitung.
»Monsieur Kirchner, Sie waren interessiert an einem Obduktionsbericht aus Bordeaux …«
»Ja, bin ich. Haben wir ihn?«
»Ich rufe an, um zu fragen, wohin ich ihn faxen könnte.«
»Großartig«, sagte Kirchner, »aber das mit dem Faxen lassen wir besser. Machen Sie mir bitte eine Datei draus, und schicken Sie sie elektronisch. Es wäre schön, wenn das schnell ginge.«
»Geht sofort raus«, sagte Muriel, »an Ihre Le-Monde -Adresse?«
»Ja, ja«, sagte Kirchner, »oder an die private, das ist egal, kommt alles hier an.«
»Warten Sie! Sie sollten noch wissen, dass der Bericht noch nicht veröffentlicht ist, also ich meine, auch nicht innerhalb der Ämter.«
»Na umso besser! Ich will gar nicht wissen, wie ihr das wieder hingekriegt habt. Gute Arbeit! Danke!«
Die schöne, warme Stimme Muriels blieb ihm noch für eine ganze Weile angenehm im Ohr, nachdem er aufgelegt hatte.
Muriel , dachte Kirchner, hört sich gut an .
Keine zehn Minuten später hatte er den Bericht auf dem Bildschirm, ein vom diensthabenden Arzt der Nacht gezeichnetes Dokument, am Kopf der Seite prangte das Wappen der Klinik in Bordeaux. Der Bericht war keine drei Stunden, nachdem die Leiche des Ministers in Arcachon angelandet worden war, abgefasst worden, die Republik hatte schnell gearbeitet.
Der Arzt hatte das Routineverfahren vollzogen, Kirchner las nicht zum ersten Mal einen Obduktionsbericht, das nüchterne Protokoll einer Leichenschau.
Der Tote war nackt bis auf die Socken eingeliefert worden, Kirchner las gespannt weiter.
Der Körper von Julien Lacombe, ein Meter achtundsiebzig groß, vierundachtzig Kilogramm schwer, lag bald geheimnislos vor seinem inneren Auge.
Er war leicht übergewichtig, die Haut blass mit einigen Unreinheiten und Pigmentflecken, mit einer Narbe über dem Blinddarm und einer weiteren, etwa fünf Zentimeter langen neben dem linken Schulterblatt, die der protokollierende Arzt als lange zurückliegende Verletzung bezeichnete.
Kirchner las, dass der anwesende rechtsmedizinische Kollege darauf hinweise, dass Verfärbungen an beiden Schultern und Druckstellen im Hüftbereich Rückschlüsse darauf zuließen, dass der Tote noch kurz vor seinem Ableben körperlicher Gewalt ausgesetzt oder Gegenstand eines gewaltsamen Gezogenwerdens gewesen sein könne.
Der Körper war überdies mit kleineren Kratz- und Schürfwunden übersät. Im Gesicht des Toten fanden die Mediziner Spuren von Schlägen, die ohne Hilfsmittel beigebracht worden seien.
Sie zählten die Zähne, beschrieben den Zustand der Fingernägel und gingen Schritt für Schritt ihre unheimliche Checkliste durch.
Kirchner sparte sich die Schilderung von der Öffnung des Leichnams, übersprang die Untersuchung der Schädelhöhle und blätterte zum Kapitel Brusthöhle vor, das Kapitel nach dem Y-Schnitt, den die Pathologen schulbuchgemäß von den Schlüsselbeinen schräg abwärts zum Schambein ausführten, um ans Innere des Körpers zu gelangen.
Und dort fand er endlich etwas. Im Bericht stand schwarz auf weiß, dass die Lunge des Toten
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