Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
es ihr in groben Umrissen. Dass mich die mysteriöse Lage auf Island beunruhige – die Gründe sagte ich ihr nicht, murmelte nur etwas von »persönlichen Verbindungen nach Reykjavik«, was sie mir erkennbar nicht glaubte, aber hinnahm – und ich einfach mal aus erster Hand erfahren wolle, was sich dort abspielte. Sie blieb eine Zeitlang ruhig, nahm ihr zweites, vom weit ausgestreckten Arm der Bedienung aus sicherer Entfernung gereichtes Bier im Empfang, leerte es mit dem ersten Zug nur halb und stellte es ab.
»Du weißt, was in den letzten Monaten auf meiner Insel abgegangen ist? Die Politiker und Banker haben uns in was reingeritten – ok, wir haben das alle mitgemacht, war ja auch lohnend – und jetzt sollen wir britischen und holländischen Spekulanten hübsch das zurückzahlen, was sie auf eigenes Risiko eingesetzt haben. Das heißt, nicht mal denen, die sind ja von ihren eigenen Regie rungen entschädigt worden. Aber denen halt. Die Leute bei uns sind aus allen Wolken gefallen und besinnen sich mehr auf die Vergangenheit. Island, verstehst du, das war einmal ein armes und isoliertes Land. Aber...« Sie sah hoch und mich an, schickte mir einen Blick, der Männer bis zum nächsten Weihnachtsfest impotent machen konnte. »Aber«, wiederholte sie, »was erzähl ich dir da. Du lügst mich an. Kein Mensch kommt in eine Kneipe und will mit einem Isländer über Island reden. Und was für persönliche Verbindungen hast du? Sag mal Namen. Ich stamme aus Reykjavik und kenne dort ALLE. Nun?« Ich saß in der Falle. Sie wusste es, ich wusste es. Ich trank mein Bier aus und hob es ebenfalls zur Serviererin hin. Die machte nur »tz« und lackierte sich die Zehennägel weiter.
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Es gab keinen triftigen Grund, Nancy Halgrimsdottir nicht mit den Umrissen der absonderlichen Geschichte zu versorgen, die uns seit Wochen in Atem hielt. Wohl aber gab es einen sehr guten Grund, es zu tun: Denn die isländische Bildhauerin hatte meinen gewiss nicht dünnen rechten Oberarm in den Schraubstock ihrer linken Hand justiert, mich, als besäße ich das Gewicht eines handelsüblichen Suppenhuhns, vom Stuhl gezogen und zum Ausgang des »Café Noir« geleitet. »Ich zeig dir mal mein Atelier, ok? Und du erzählst mir deine Story. Auch ok?« Ich brachte es nicht übers Herz, einem doppelten ok? mit einem einfachen Nö zu entgegnen.
Wir liefen durch die dunkle Vorstadt. Nancy hatte ihren Griff ein wenig gelockert, ließ aber keinen Zweifel daran, dass dies lediglich eine Form des humanen Strafvollzuges sei und sie auch zu härteren Varianten desselben fähig sein würde. Der Weg war lang, die Luft eisig, der Himmel klar und mein Bericht ein rechtes Kontrastprogramm dazu: bündig, heiß, verworren. »Oh mein Gott«, stöhnte Nancy, als ich am Ende angelangt war, »wenn das stimmt, ist es die gequirlteste Kacke, die mir jemals zu Ohren gekommen ist.« Ein Sprachbild, das ich mir besser nicht fotorealistisch vorstellen mochte.
Das Atelier der Künstlerin lag im Hinterhof eines tristen Gebäudes, das, wie ich wusste, früher eine Metallwerkstatt gewesen war. Der Hof selbst erinnerte an einen Schrottplatz, rostiges Eisen lehnte sich deformiert an patinierte Zink-Kupferlegierungen, polierter Stahl glänzte im Mondlicht, Blech schepperte bei jedem Gargantua-Schritt meiner Führerin, die die Tür zu ihrem Reich aufschloss und Licht machte. Im Inneren sah es kaum anders aus als auf dem Hof. Unmengen von Metallen, große Platten glatten Stahls, von denen noch der Geruch umfangreicher Schweißarbeiten ausging. »Auftragsarbeit für die Fachhochschule Kassel, drei zu der Andeutung einer Pyramide arrangierte Flächen«. Ich war beeindruckt. »Die wiegen doch mindestens...« Ich hielt den Kopf etwas schräg und betrachtete mir die Giganten genau – »hm, also wenn nicht noch mehr... wie kriegst du die Dinger hier ins Atelier und wie bewegst du sie?« Nancy lachte. »Alles solide Muskelarbeit, mein Lieber. Ich arbeite hier mit zwei Kolleginnen zusammen, Ateliergemeinschaft, verstehst du? Die sind gottseidank ein wenig kräftiger als ich.« Ein Umstand, den ich mir nicht vorzustellen wagte. Drei Walküren und ich auf dem besten Wege, ein Wagner zu werden.
»Komm, wir trinken erst mal einen Schwarzen Tod.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Nancy Halgrimsdottir hinter ihrer Skulptur. Sie kam mit einer Flasche und zwei Wassergläsern zurück, füllte beide zur Hälfte und reichte mir eins. »Nicht dieses läppische Zeugs mit 40% Alkohol, mit
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