Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
einmal auszuprobieren, nicht der Ort und nicht einmal die Kälte, die meine Beine hochkriecht, nichts außer dieser stillen Übereinkunft, bis zur letzten Tür zu warten, die wir hinter uns schließen können, und die unbändige Freude, die mich erfüllt, als ich dicht hinter ihm im Aufzug stehe und zum zweiten Mal die feine Ader an seiner Schläfe pulsieren sehe und sie wieder nicht berühre, noch nicht.
2.
Simon braucht vier Anläufe, bis die elektronische Türverriegelung von Zimmer 23 endlich auf seine Karte reagiert und den Weg freigibt. Er dreht sich zu mir um und sagt: »Ich bin ziemlich nervös«, und er sagt es mit so viel aufrichtiger Bestürzung in der Stimme, dass ich lachen muss. Ich bin nicht nervös. Ich habe aus völlig unerklärlichen Gründen einmal keine Angst, alles falsch zu machen. Ich habe noch nicht mal den Wunsch, irgendetwas richtig zu machen. Ich bin da. Das wird genügen.
Unsere beiden Koffer sinken, kaum dass wir sie im Flur hinter der Tür abgestellt haben, in einer albernen Choreografie erst gegeneinander und kippen dann gemeinsam um. Wir lassen sie liegen. Wir betreten das Zimmer. Auf einem Fernsehmonitor grüßt Hotel Floriana den neuen Bewohner von Zimmer 23 in magentafarbener Typografie. Simon läuft hin und schaltet das Gerät aus. Herr Wagner? Herr Wegener? Das Zimmer ist sicher keins aus der untersten Preisklasse und von nichtssagender Unaufdringlichkeit. Dezentes Stehlampenlicht. Es gibt einen Schreibtisch mit Stuhl und eine Sitzgruppe aus zwei Sesseln, die sich um den Eindruck bemühen, es ginge hier auch ums Wohnen und nicht nur um das große Bett, das den Raum beherrscht. Uns geht es um das große Bett. Wir stehen direkt davor. Wir sehen uns an und staunen. Ich habe keine Ahnung, worüber Simon staunt. Ich staune über Folgendes: diese ungewohnte Gelassenheit in mir. Die Abwesenheit von Zweifel oder Schuld. Wie sicher ich mir bin, dass hier kein Missverständnis vorliegt. Dass ich gewollt werde, genau ich. Wie schön seine Augen sind.
Ich staune darüber, dass ich nicht mehr weiß, was für Unterwäsche ich trage und ob die Farben von Slip und BH zusammenpassen, und dass es mir egal ist. Wie es möglich ist, dass man durch den Raum der Stille gehen und in einem Hotelzimmer ankommen kann. Und wie klein der Abstand zwischen uns geworden ist, weniger als eine Atemlänge. Ich staune, als meine Wange plötzlich in der warmen, trockenen Höhlung von Simons Hand liegt und seine Daumenspitze meinen Mundwinkel berührt, zart, ganz zart.
»Da sitzt immer ein kleiner Rest Lächeln«, sagt Simon, und darüber staune ich auch, ich, die Frau-die-immer-so-traurig-ist.
Wir ziehen unsere Jacken aus und werfen sie auf den Boden, ohne uns aus den Augen zu lassen. Simons Finger wandern meinen Hals abwärts bis zu der Vertiefung unterhalb der Kehle, wo so viel Verletzliches hinter dünner Haut liegt, Hingabe oder Preisgabe, wie kann ich das jetzt schon wissen? Er zeichnet den Ausschnitt meiner Bluse nach, als wolle er mich vermessen: So weit ist es also von der Schulter bis zu der Stelle zwischen den Brüsten, die man noch erreichen kann, ohne Hindernisse zu unterwandern oder Knöpfe öffnen zu müssen. Einen Moment verharrt er dort, und ich weiß genau, dass meine Augen ihn zum Bleiben ermuntern, aber er zieht seine Linie wieder aufwärts, präzise und langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Oben am Kragen schiebt er den Stoff ein wenig zur Seite und beugt den Kopf nach vorn, und ich komme ihm entgegen und stelle mich auf die Zehenspitzen und lege meine Arme um ihn, meine Hände ziehen sein Hemd aus dem Hosenbund und finden seine Haut auf dem Rücken im selben Moment, in dem sein Mund meinen Schulteransatz berührt. Es sind Kinderküsse, warme, trockene Kinderküsse mit geschlossenen Lippen, und mir fällt ein, mit welcher Leidenschaft ich früher die feste Haut von Schokoladenpudding geküsst habe, wenn niemand hinsah, so schön ist Küssen, dachte ich damals, so schön ist Geküsstwerden, denke ich jetzt. Simons Haut am Rücken ist glatt und weich, die an seinem Kinn und seinen Wangen kratzt ein wenig, als er sich seinen Weg zu meinem Ohr hocharbeitet und dabei sorgfältig einen Kuss hinter den anderen setzt. Ich wende meinen Kopf höchstens einen Millimeter zur Seite, aber Simon reagiert sofort und fragt, ob er sich schnell rasieren gehen soll. Nein, sage ich, nein, obwohl es vielleicht keine schlechte Idee wäre, aber ich will nicht, dass er fortgeht und mich allein lässt und
Weitere Kostenlose Bücher