Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Prost, die Herrschaften.
Ich erhebe mein Glas. Das war nicht schlecht. Das war sogar ziemlich überzeugend. Rückzugsgeplänkel rund um den Tisch, ja wenn das alles ist, das ist durchaus nachvollziehbar, eigentlich sogar sinnvoll, man muss schließlich wissen, wo seine Leichen begraben sind, und was, wenn sich herausstellte, dass er hier in dieser Stadt wohnt? Irrer Zufall, aber so was kann passieren.
Dann würde ich wegziehen, sage ich entschlossen, und damit habe ich sie endgültig auf meiner Seite. Nichts als eine Vorsichtsmaßnahme ist das, was ich vorhabe, also ganz in ihrem Interesse. Sie ziehen ab und überlassen mir das Feld, nicht ohne mich schnell noch davor zu warnen, Wikipedia-Artikel oder soziale Netzwerke für meine Recherchen heranzuziehen, aber ich höre schon nicht mehr richtig hin, weil ich bereits den Computer aufgeklappt habe und die ersten Buchstaben eintippe.
Hätte ich Frau Papic nicht so großzügig mein Altpapier überlassen, besäße ich jetzt eine hübsche Zeichnung von Simon mit seiner Adresse auf der Rückseite. Und ich hätte niemals miterleben müssen, was passiert, wenn man »Simon Wagner« ohne weitere zusätzliche Stichworte bei Google eingibt. Ich hätte das Gefühl nicht kennengelernt, das man bekommt, wenn man Hunderte idiotischer Bilder und Einträge anklickt, bis die ganze Welt nur noch aus Menschen zu bestehen scheint, die Simon Wagner heißen und Tischtennis spielen oder bei der freiwilligen Feuerwehr sind, Realschüler, Klempner oder Fahrlehrer, übergewichtig oder Brillenträger oder tote Firmengründer, sich in Vorstandsreihen positionieren, Urkunden empfangen oder ihren wohldefinierten Pectoralismuskel vorzeigen. Beflügelt vom Wein, befeuert von Adrenalin, mache ich das etwa eine Stunde lang mit, bis ich plötzlich davon überzeugt bin, auf dem Monitor im Hotelzimmer habe niemals Wagner gestanden, sondern doch Wegner, ganz klar, und jetzt sind die Simon Wegners dran, die offenbar auch alle Mannschaftssport treiben oder eine Domain, einen Schulabschluss und ein Netzwerkprofil besitzen, als Nächstes kommen die Wegeners, dann die Wiegners, die Wengers und die Wenigers, und als ich bei den Weiningers angekommen bin, ist Mitternacht längst vorbei, und ich bin genauso besoffen und frustriert wie der alte Hannes auf meinem Anrufbeantworter.
So wird das nicht gehen. Meine Leidenschaft für Internetrecherche war nie besonders groß, mir fehlt der Spürsinn, die Ausdauer, die Kreativität bei der Eingabe von Suchbegriffen, im Grunde fehlt mir alles, womit man Unwissenheit oder ein schlechtes Gedächtnis kompensieren kann. Das Einzige, was ich habe, ist der inbrünstige Wunsch, Simons Aufenthaltsort zu kennen, nun, nachdem ich mir die Erlaubnis gegeben habe, ihn wissen zu wollen. Sogar der Schmerz über das Ende der Liebe, der jetzt mit nachtschwarzer Wucht über mich hereinbricht, ließe sich besser ertragen, wenn ich auf meiner inneren Landkarte die korrekte Tabuzone eintragen könnte, sage ich mir, und was, wenn ich schwanger bin, sage ich mir, oder wenn ich eine ansteckende Krankheit hätte und ihn informieren müsste, sage ich mir, und was, wenn ich einfach nur wissen möchte, wo er abends einschläft, wo er morgens aufwacht, wo er isst, wo er scheißt, von wo aus er an mich denkt.
Ich klappe den Rechner zu und wanke ins Bad, muss mich beim Zähneputzen mit einer Hand am Waschbecken festhalten und vermeide es, mir ins Gesicht zu sehen. Den Weg zu meinem Bett finde ich auch im Dunkeln, mein Personal liegt im Vollrausch auf den Holzdielen herum, meine Eltern kleben als Trauercollage an Irenes Wandgemälde, und ich weiß, dass ich heute Nacht von ihnen allen unbehelligt bleiben werde. Nie war ich dem Gefühl, ein Nichts zu sein, näher als jetzt.
Das ist der Moment, in dem ich stolpere und sinnlos mit den Armen zu rudern beginne, um mich wieder zu fangen. Dann kommt der Moment, in dem ich gegen meinen Nachttisch knalle und dabei alles runterwerfe, was draufsteht, Lampe, Stifte, Bücher, Handy. Und jetzt ist der Moment, in dem es ganz still wird, als der letzte rollende Stift endlich irgendwo angekommen ist, in dem ich in all meiner Erbärmlichkeit auf dem Boden kauere und Simons Meditationskissen sehe, über das ich gestolpert bin, ich Nichts, ich Husten der Götter im Universum, ich Dreck unter dem Fingernagel der Grünen Tara, ich Dreitageliebe, ich hoffnungsloser Fall, ich.
4.
Verdient hätte ich Katzenjammer. Womit ich stattdessen beim Aufwachen beschenkt werde, sind
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